In Italien züchten Forschende Lebensmittel in sechs Unterwasserkuppeln.

Foto: Nemo's Garden

Die Gebilde sehen aus, als kämen sie von einer anderen Welt. Wie gewaltige Quallen mit dutzenden Tentakeln und einem transparenten Schirm harren sie am Boden aus, jederzeit bereit, loszustarten. Doch die Quallen können weder schwimmen, noch befinden sie sich auf einem fremden Planeten. Es sind Gewächshäuser, die fest am Meeresboden rund 40 Meter vor der italienischen Mittelmeerküste in Ligurien verankert sind. Im Inneren der Kuppeln: Basilikum, Salat, Tomaten, Zucchini, Pilze, Erdbeeren und viele andere Pflanzen, zehn Meter unter der Meeresoberfläche. "Nemos Garten" nennen die Entwickler das Projekt. Das Ziel: eines Tages vermehrt Lebensmittel nicht an Land, sondern im Wasser anzupflanzen.

Möglichkeiten dafür gibt es einige. Ozeane machen mit zwei Dritteln den größten Teil der Erdoberfläche aus, liefern aber nur rund zwei Prozent der weltweiten Ernährung, überwiegend aus Fischfang. Um eine wachsende Weltbevölkerung zu ernähren und mit dem Klimawandel besser umzugehen, experimentieren immer mehr Entwickler damit, auch die Meere besser für den Lebensmittelanbau zu nutzen. Von Algen über Muscheln bin hin zu anderen Lebensmittel, die auch an Land wachsen, könnte vieles künftig vermehrt unter Wasser produziert werden, glauben manche.

Algenproduktion steigt

Ganz neu ist die Kultivierung von Pflanzen in Ozeanen nicht. In vielen Teilen der Welt stehen etwa Algen seit Jahrtausenden auf dem Speiseplan, in Ländern wie Japan werden sie seit Hunderten von Jahren auch gezielt kultiviert. Dafür setzten Bewohner beispielsweise Bambusstäbe im Wasser ein, auf denen sich die Sporen von Algen festsetzen können.

Heute werden in Japan jedes Jahr hunderttausende Tonnen der getrockneten, papierartigen Meeresalgen, genannt Nori, für die Sushi-Herstellung produziert. Doch die bisher größten Algenfarmen der Welt sind in China entstanden: Mehr als 14 Millionen Tonnen Meeresalgen produziert China jedes Jahr. Der Großteil davon bleibt im eigenen Land.

Superpflanze der Zukunft

Nicht wenige sehen Algen als wahre Superpflanze für die Zukunft. Nicht nur als Lebensmittel, sondern auch als Dünger, Treibstoff, in Medikamenten, für Pigmente in Kosmetika oder als biologische Verpackung und fossilen Plastikersatz könnten Algen künftig zum Einsatz kommen. Der Vorteil: Algen brauchen zum Wachsen kein Frischwasser, es wird kein Land verbraucht und sie speichern zudem CO2, was wiederum beim Kampf gegen den Klimawandel helfen könnte.

Noch steckt die Algenkultivierung außerhalb Asiens vielerorts in den Kinderschuhen. Doch in den vergangenen Jahren sind auch in Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Spanien und den USA neue Unternehmen entstanden, die sich mit dem Algenanbau beschäftigen. Eines von ihnen, Greenwave, will etwa hunderten Küstenorten dabei helfen, kleinere vertikale und regenerative Meeresfarmen aus Algen und Muscheln zu kultivieren. In den nächsten zehn Jahren wolle man zehntausend Landwirten und Fischern den Algenanbau näherbringen.

Problem mit Verdauung

"Das Problem ist, dass Europäer Algen im Vergleich zu Japanern meist noch weniger gut verdauen können", sagt Gerhard Herndl, Meeresbiologe an der Universität Wien, im STANDARD-Gespräch. Zudem haben Algen im Vergleich zu Eiern oder Fisch einen niedrigeren Nährstoffgehalt.

Nichtsdestoweniger haben Algen laut Herndl viel Potenzial, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu binden und künftig noch mehr als Lebensmittel und zur Herstellung verschiedener Produkte zum Einsatz zu kommen. Algenkulturen ließen sich auch in großem Maßstab nachhaltig bewirtschaften – vor allem in Regionen wie der amerikanischen Westküste oder entlang der Küste Norwegens, an denen gewaltige Algenwälder durch den hohen Nährstoffgehalt im Wasser bereits ganz natürlich sehr gut wachsen und nachhaltig abgeerntet werden können, so Herndl.

Reis aus dem Meer

Eine andere Idee verfolgt das US-amerikanische Unternehmen Agrisea. Deren Entwickler wollen es möglich machen, Reis im Meer anzubauen. Dafür experimentiert das Unternehmen mit Reissamen, die in Salzwasser überleben und die im Vergleich zu herkömmlichen extrem wasserhungrigen Reispflanzen kein Süßwasser benötigen und kein Methan ausstoßen.

Das erste Projekt des Unternehmens befindet sich in Vietnam, wo der Meerreis auf einer schwimmenden Plattform angepflanzt wird, die sich im Falle von Unwettern verschieben lässt. Agrisea glaubt, dass sich auch andere Pflanzen für einen Anbau in Salzwasser modifizieren ließen und dass sich damit die Lebensmittelversorgung überall auf der Welt verbessern ließe.

Per Livestream dabei

Bei den sechs quallenartigen Kuppeln vor der Küste Italiens experimentiert man zwar noch nicht mit dem Anbau von Reis im Meer, dafür aber mit hundert anderen Pflanzen, die normalerweise an Land angebaut werden, darunter neben Salat und Tomaten auch Bohnen und Erbsen. Über einen Livestream auf der Website kann man den Pflanzen beim Wachsen in den Kuppeln zusehen, hin und wieder schwimmt ein Fischschwarm oder ein Taucher des Teams an Nemos Garten vorbei.

Der obere Teil jeder Kuppel ist mit Luft gefüllt, die sich über die Sonneneinstrahlung durch das Meerwasser erwärmt. Fehlt es im Winter an Licht, damit die Pflanzen wachsen können, kommen installierte LED-Lampen zum Einsatz, die sich an der Außenseite der Kuppeln befinden. Das Meerwasser sorgt dafür, dass die Temperatur zwischen Tag und Nacht innerhalb der Kuppeln relativ konstant bleibt.

In Biosphären im Meer züchten Entwickler Lebensmittel in großer Vielfalt.
Foto: Nemo's Garden

Überwachung durch Sensoren

Die Pflanzen im Inneren kommen laut den Forschenden ohne Erde aus und werden über Leitungen mit Frischwasser und Nährstoffen versorgt. Das Wasser, das durch die Wärme verdunstet, kondensiert an der Innenseite der Kuppeln, tropft herunter und versorgt die Pflanzen dadurch wieder mit Wasser. Zudem überwachen eine Reihe von Sensoren die Luftfeuchtigkeit, Temperatur, den Sauerstoff- und den Kohlendioxidgehalt in den Kuppeln.

Laut den Entwicklern bietet das Unterwasser-Gewächshaus den Vorteil, dass es weitgehend wetterunabhängig ist, es keine Parasiten gibt und deshalb keine Pestizide benötigt werden und dass die daraus gewonnenen Lebensmittel nährstoffreicher als die an Land geernteten seien. Momentan experimentieren die Forschenden noch damit, welche Pflanzen und Lebensmittel sich am besten in solchen Unterwasserkuppeln anbauen ließen.

Von Erdbeeren über Salat bis hin zu Bohnen werden viele verschiedene Lebensmittel in Nemos Garten angebaut.
Foto: Nemo's Garden

Herstellung aufwendig

Zwar sind die Unterwasser-Lebensmittel derzeit noch um ein Vielfaches teurer als herkömmlich produzierte Lebensmittel. Die Entwickler glauben aber, dass sich das Projekt vergrößern und auch in anderen Regionen umsetzen ließe. Insbesondere in Küstennähe liegenden Gebieten, die sich etwa aufgrund ihrer Trockenheit und ihres Wassermangel kaum für den Anbau von Lebensmitteln eignen, könnten die Unterwasserfarmen künftig Lebensmittel liefern, ist man bei Nemos Garten überzeugt. Laut den Entwicklern könnten sich etwa die Malediven, die derzeit einen großen Teil ihrer Lebensmittel importieren, durch den Unterwasseranbau zu einer "selbstversorgenden Landwirtschaftsnation" entwickeln. Auch in Belgien und auf den Florida Keys wurde bereits mit dem Bau von Biosphären im Meer begonnen.

Experten wie Herndl sind bei solchen Vorhaben allerdings skeptisch. "Das ist ein sehr aufwendiges Unterfangen und wird sich großflächig kaum umsetzen lassen", sagt er. Stattdessen sieht der Meeresbiologe die Zukunft vor allem in Muscheln. Denn während sich die Ernährung aus dem Meer aktuell vorwiegend auf Fischfang und dort allen voran auf Raubfische wie Thunfische konzentriere, von denen es immer weniger gebe, hätten Muscheln das Potenzial, 40-mal größere Mengen an Nahrungsmitteln als der Fischfang zu liefern. Zudem haben Muscheln einen hohen Proteingehalt. "Wir fangen immer noch die falschen Organismen aus dem Meer", sagt Herndl.

Umweltprobleme

Doch noch stehen Algen und Muscheln vielerorts kaum auf dem Speisplan. Auch die Auswirkungen der Zucht auf die Umwelt sind noch nicht gänzlich bekannt. Umweltschützerinnen warnen etwa davor, dass bei der Kultivierung von Muscheln andere Arten verdrängt werden könnten. Auch bestimmte kultivierte Algenarten könnten sich womöglich verbreiten und andere Arten verdrängen, so die Befürchtung.

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie künftig verhindert werden kann, dass Mikroplastik und anderer Müll in der Ozeannahrung landet. Bei richtigem Anbau können Algen aber viele ökologische Vorteile bieten, sagen selbst Umweltschützer. Bis die Landwirtschaft aus dem Meer aber tatsächlich auch jener an Land Konkurrenz macht, dürfte es noch einige Zeit dauern. (Jakob Pallinger, 6.6.2022)