Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan, hier vor einer Ehrengarde, gab sich am Montag martialisch: Das Projekt einer 30 km tiefen Sicherheitszone in Syrien solle vollendet werden.

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Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte: Jedenfalls versucht Präsident Tayyip Erdoğan nun konkreten Profit aus der strategischen Aufwertung zu ziehen, die die Türkei durch den Ukraine-Krieg erfahren hat. Aus seiner Sicht ist er dazu in einer sehr guten Position. Denn auf der einen Seite bemüht sich die Nato um ein türkisches Einlenken, was den Beitritt Finnlands und Schwedens betrifft. Auf der anderen hofft Russland, dass Ankara der regionale Burgfrieden – vor allem in Syrien – mit Moskau wichtig genug ist, um nicht ganz auf die westliche Seite zu rutschen.

Am Montag kündigte Erdoğan an, das "unvollendete Projekt" einer türkischen "Sicherheitszone" von 30 Kilometer Länge an der Grenze zu Syrien weiterführen zu wollen. Genau dieses "Projekt" – die "Operation Frühlingsfrieden" 2019, der dritte Einfall der Türkei auf syrisches Territorium seit 2016 – war der Anlass für großen US-Druck auf Ankara und Waffenembargos auch von Finnland und Schweden. Auch das syrische Regime und sein Protektor Russland waren von der weiteren Beschädigung der syrischen Souveränität durch die Türkei natürlich nicht erfreut. Im Sotschi-Abkommen einigten sich daraufhin Russland und Ankara, mit der Zustimmung der USA im Hintergrund, auf eine Kompromisslösung: Die von Erdoğan angestrebte Zone blieb auf einen Streifen zwischen Tal Abyad und Ras al-Ayn beschränkt, sie wird von Russen und Türken gemeinsam überwacht.

Ankara will sie aber nun, wie ursprünglich geplant, in den Osten bis zur irakischen Grenze und in den Westen bis zu den bereits türkisch kontrollierten Gebieten westlich des Flusses Euphrat ausdehnen. Dabei geht es um die Zurückdrängung der syrischen Kurden der PYD samt ihrem bewaffneten Arm YPG von der Grenze: Für Ankara sind diese Organisationen nichts anderes als ein Ausläufer der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK, die auch in den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft wird.

Rojava-Unterstützer

Aber die von der PYD kontrollierte kurdische Autonomie in Nordostsyrien, Rojava genannt, hat ihre westlichen Anhänger. Für Erdoğan fungiert besonders Schweden als Auffangbecken für "Terroristen". Ankara verlangt von Stockholm die Auslieferung von elf PKK-Mitgliedern, im Fall von Finnland sind es sechs. Aber auch türkische Dissidenten aus anderen politischen Lagern finden in diesen Ländern Aufnahme. Besonders Schweden hat eine alte Tradition der Asylpolitik Türken gegenüber, schon seit dem Militärcoup in der Türkei im Jahr 1980.

Bei ihrer Haltung zu den PYD/YPG-Kurden – die in Europa gerne als "syrische Kurden" verallgemeinert werden, sie vertreten aber nicht alle Kurden und Kurdinnen und haben auch Kritiker – folgt die EU eigentlich der US-Politik: Die USA hatten die YPG-Milizen als lokale Truppe gegen den "Islamischen Staat" (IS) aufgebaut, bewaffnet, trainiert und beraten. Um das für Ankara etwas verträglicher zu machen, schufen die USA die SDF (Syrian Democratic Forces), die andere Volksgruppen enthalten, jedoch noch immer eindeutig von den YPG dominiert werden.

Verrat an den Kurden

US-Präsident Donald Trump plante, nach dem Sieg über den IS die Zusammenarbeit mit den YPG einzustellen, der "Verrat" an den kurdischen Verbündeten traf jedoch auch in den USA auf Widerstand. Dazu trägt auch bei, dass der IS 2019 zwar sein letztes Territorium verloren hat, gerade in den vergangenen Monaten jedoch wieder aggressiver und stärker wird, wie der Angriff auf ein Gefängnis mit IS-Insassen in Hassakeh im Jänner 2022 zeigte. Noch immer sind deshalb ein paar hundert US-Soldaten im Gebiet, in dem sich auch die syrischen Ölvorkommen befinden und das von den schweren US-Sanktionen gegen Syrien ausgenommen ist – was Ankara zusätzlich ärgert.

Nun, angesichts der Erweiterungswünsche der Nato, rechnet Erdoğan vielleicht sogar mit einem großen Deal: weniger Unterstützung für die PYD/YPG aus dem Westen – dazu auch noch mehr Waffen beziehungsweise Aufhebung der diversen Waffenembargos.

Von den USA will die Türkei die Aufrüstung ihrer F-16-Kampfjets sowie vierzig neue: Dass der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis soeben bei seinem US-Besuch gegen den Verkauf Stimmung machte, führt zu einer neuen Krise innerhalb des Verteidigungsbündnisses. Mitsotakis existiere nicht mehr für ihn, sagte ein wütender Erdoğan am Montag, er werde ihn nie wieder treffen.

Begehrte F-35

Die Wut rührt auch daher, dass für Griechenland die Prozedur für den Kauf von amerikanischen F-35 gestartet wurde, den modernsten Kampfjets der Serie – die Ankara von Washington verweigert werden. Die Türkei ist 2019 aus dem F-35-Programm geflogen, als US-Reaktion darauf, dass sie von Moskau das Raketenabwehrsystem S-400 gekauft hatte.

Erdoğan pokert mit dem Westen – aber in Syrien auch mit Russland. Die russische Zustimmung zur türkischen Präsenz im Norden und Nordwesten (Provinz Idlib) Syriens wurde im Astana-Format, an dem auch Iran beteiligt ist, verhandelt. Moskau hat also durchaus auch seine Druckmittel Ankara gegenüber. Allerdings ist Russland durch seine Offensive in der Ukraine überdehnt, Truppen sollen aus Syrien wegverlegt werden, auch Syrer werden für den Kampf rekrutiert. Und die Türkei hat ihren Luftraum für russische Flüge nach Syrien gesperrt. Das heißt: Auch Moskau gegenüber steht Erdoğan gewichtiger da. Dass sich Russland und die USA wie beim Sotschi-Abkommen 2019 miteinander verständigen, ist im Moment auch nicht möglich, was den türkischen Präsidenten zusätzlich stärkt.

Adana-Abkommen

Die Türkei, die seit Jahresbeginn auch im Irak verstärkt gegen die PKK vorgeht, beruft sich bei ihren Einfällen in syrisches Gebiet auf das Adana-Abkommen von 1998, das ihr die Verfolgung der PKK über die Grenze erlaubte, allerdings nur fünf Kilometer tief. Laut Türkei enthält der Entwurf eines Normalisierungsabkommens mit Damaskus jedoch die Erweiterung der Zone auf 30 Kilometer, die sich Erdoğan wünscht.

Ankara unterstütze "die syrische Integrität" – und zuletzt habe Damaskus sich auch militärisch gegen die YPG gewandt, heißt es. Das ist neu: In den Jahren seit dem Beginn des Aufstands und Kriegs in Syrien hatten sich das Assad-Regime und die PYD/YPG-Kurden weitgehend arrangiert. Als Trump sie fallen zu lassen drohte, trieb sie dies Assad weiter in die Arme. (Gudrun Harrer, 25.5.2022)