George Soros sprach in Davos über die Gefahr Chinas und Russlands für die offenen Gesellschaften. Der Gründer der Open Society Foundations im Gastkommentar.

Seit der letzten Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums hat sich der Kurs der Geschichte dramatisch verändert. Russland ist in der Ukraine einmarschiert, was die Europäische Union, die gegründet wurde, um eine Rückkehr des Krieges auf den Kontinent zu verhindern, in ihrem Kern erschüttert hat. Selbst wenn die Kämpfe enden, was letztlich unvermeidlich ist, wird die Situation nie zum Status quo ante zurückkehren. Tatsächlich könnte sich die russische Invasion als Anfang des Dritten Weltkriegs erweisen, und womöglich wird unsere Zivilisation das nicht überleben.

"Die größten Bedrohungen für offene Gesellschaften stellen heute China und Russland dar", sagte Soros Dienstagabend in Davos.
Foto: AFP / Fabrice Coffrini

"Die Welt befindet sich in einem zunehmenden Konflikt zwischen zwei diametral unterschiedlichen Regierungssystemen: der offenen Gesellschaft und der geschlossenen Gesellschaft. In einer offenen Gesellschaft besteht die Rolle des Staates darin, die Freiheit des Einzelnen zu schützen; in einer geschlossenen Gesellschaft ist es Rolle des Einzelnen, den staatlichen Herrschern zu dienen. Andere Fragen, die die gesamte Menschheit betreffen – die Bekämpfung von Pandemien und Klimawandel, die Vermeidung eines Atomkriegs und die Bewahrung globaler Institutionen –, mussten sich in diesem Kampf der Systeme mit einer Nebenrolle begnügen."

Putin und Xi bei den Spielen

Lassen Sie mich zunächst einige Entwicklungen der jüngsten Zeit ansprechen, insbesondere das Treffen zwischen dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am 4. Februar bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Winterspiele in Peking. Beide gaben eine lange Erklärung heraus, in der sie verkündeten, dass die Zusammenarbeit zwischen ihnen "keinerlei Einschränkungen" unterliege. Putin informierte Xi über eine "militärische Sonderoperation" in der Ukraine, aber es ist unklar, ob er Xi erzählte, dass er dabei an eine großangelegte Invasion dachte. US-amerikanische und britische Militärexperten jedenfalls teilten ihren chinesischen Kollegen eindeutig mit, was da im Kommen war. Xi gab sein Einverständnis, bat aber Putin, bis zum Abschluss der Winterspiele zu warten.

Xi seinerseits entschloss sich, die Spiele trotz des Auftretens der hochansteckenden Omikron-Variante abzuhalten, die damals gerade begann, sich in China auszubreiten. Die Veranstalter unternahmen große Anstrengungen, um eine luftdichte Blase für die Wettkämpfer zu erstellen, und die Spiele wurden ohne Schwierigkeit zum Abschluss gebracht. Omikron jedoch etablierte sich in der Bevölkerung – zuerst in Shanghai, Chinas größter Stadt und seinem wichtigsten Handelszentrum. Inzwischen verbreitet es sich im ganzen Land. (...)

Widerstand gegenüber Russland

Putins "militärische Sonderoperation" hat sich derweil nicht wie geplant entwickelt. Er erwartete, dass seine Truppen von der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine als Befreier begrüßt werden würden. Seine Soldaten hatten Paradeuniformen für eine Siegesparade im Gepäck. Stattdessen leistete die Ukraine unerwartet starken Widerstand und fügte der Invasionsarmee, die schlecht ausgerüstet und schlecht geführt war und rasch demoralisiert wurde, schweren Schaden zu. (...) Inzwischen ist die Invasion der Ukraine in eine neue, für die Verteidiger des Landes schwierigere Phase eingetreten. Die ukrainische Armee muss nun in offenem Gelände kämpfen, wo sich die numerische Überlegenheit der russischen Streitkräfte sehr viel schwerer überwinden lässt.

Die Ukrainer tun ihr Bestes; sie starten Gegenangriffe und dringen manchmal sogar kühn auf russisches Gebiet vor. Diese Taktik hatte den zusätzlichen Vorteil, der russischen Bevölkerung bewusst zu machen, was wirklich im Gange ist.

Die USA haben ebenfalls ihr Bestes gegeben, um die finanzielle Kluft zwischen Russland und der Ukraine zu verringern, zuletzt, indem sie der ukrainischen Regierung beispiellose 40 Milliarden US-Dollar an Militärhilfe bereitgestellt haben. Ich kann das Ergebnis nicht vorhersagen, doch hat die Ukraine mit Sicherheit eine reelle Chance.

Ein geeinteres, föderatives Europa

Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi und andere europäische Regierungschefs sind sogar noch weiter gegangen. Sie wollen (...) eine stärkere europäische Integration fördern, damit das, was Putin macht, nie wieder passieren kann.

Der frühere italienische Ministerpräsident Enrico Letta (der Vorsitzende des Partito Democratico) hat einen Plan für ein teilweise föderatives Europa vorgelegt. Der föderative Teil würde die Bereiche auswärtige Angelegenheiten, Asyl, Energie, Verteidigung und Sozial- und Gesundheitspolitik betreffen. Viele Menschen, darunter auch ich, argumentieren, dass die Ernährungs- und Klimasicherheit der Liste hinzugefügt werden sollte.

In Europas föderativem Kern hätte kein Mitgliedsstaat eine Vetomacht. In anderen politischen Bereichen könnten die Mitgliedsstaaten "Koalitionen der Willigen" beitreten oder schlicht ihre Vetomacht behalten.

"Europa scheint sich in die richtige Richtung zu bewegen."

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in deutlicher Ausweitung seines proeuropäischen Ansatzes die Wichtigkeit einer geografischen Expansion und die Notwendigkeit der EU, sich darauf vorzubereiten, betont. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Moldau, Georgien und der westliche Balkan sollten für die EU-Mitgliedschaft in Frage kommen. Es wird seine Zeit brauchen, um die Einzelheiten auszuarbeiten, aber Europa scheint sich in die richtige Richtung zu bewegen. Es hat auf die Invasion in der Ukraine schneller, einiger und kraftvoller reagiert als je zuvor in seiner Geschichte. (...)

Merkels merkantilistische Politik

Doch ist Europa nach wie vor übermäßig stark von russischen fossilen Brennstoffen abhängig, was weitgehend an der von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel verfolgten merkantilistischen Politik liegt. Merkel schloss Sondervereinbarungen mit Russland und machte China zu Deutschlands größtem Handelspartner. Deutschland erhielt so die leistungsstärkste Volkswirtschaft in Europa, aber muss nun einen hohen Preis dafür zahlen. Die deutsche Volkswirtschaft muss sich umorientieren. Und das wird lange dauern. (...)

Was jedoch die Bewahrung der europäischen Einheit angeht, scheint (Bundeskanzler Olaf) Scholz letztlich immer das Richtige zu tun. Er hat Nord Stream 2 ausgesetzt, 100 Milliarden Euro für die Verteidigung zugesagt und Waffen an die Ukraine geliefert, was den Bruch eines langjährigen Tabus darstellt. (...)

Despotische Desaster

Was haben die beiden nun in einem Bündnis feststeckenden Diktatoren Putin und Xi vorzuweisen? Sie haben eine Menge gemeinsam. Sie herrschen durch Einschüchterung und machen folglich atemberaubende Fehler. Putin erwartete, dass man ihn in der Ukraine als Befreier begrüßen würde; Xi seinerseits hält an einer Null-Covid-Strategie fest, die sich unmöglich aufrechterhalten lässt.

Putin und Xi bei ihrem Treffen im Februar in Peking.
Foto: AP / Sputnik / Alexei Druzhinin

Putin scheint erkannt zu haben, dass er mit seinem Einmarsch in der Ukraine einen schrecklichen Fehler gemacht hat, und bereitet nun den Boden für Waffenstillstandsverhandlungen. Doch ist ein Waffenstillstand ein Ding der Unmöglichkeit, weil man ihm nicht vertrauen kann. Er müsste Friedensverhandlungen einleiten, was er nie tun wird, weil das einem Rücktritt gleichkommen würde. (...)

Interessanterweise unterstützt Xi Putin weiterhin, aber nicht mehr uneingeschränkt. Dies erklärt, warum Xi zwangsläufig scheitern wird. Putin die Erlaubnis zur Einleitung eines erfolglosen Angriffs auf die Ukraine zu geben lag nicht in Chinas Interesse. Obwohl China in diesem Bündnis mit Russland der Seniorpartner sein sollte, hat Xis Mangel an Durchsetzungsstärke es Putin gestattet, diese Position zu usurpieren. Xis schlimmster Fehler jedoch war es, seine Null-Covid-Strategie weiter zu forcieren.

Chinas Wirtschaft schrumpft

Die fortgesetzten Lockdowns hatten katastrophale Folgen und haben die chinesische Volkswirtschaft seit März in den freien Fall geschickt. Der landesweite Schnellstraßen-Logistik-Index, der den Straßentransport in ganz China misst, fiel im April auf 70 Prozent des Vorjahresniveaus. Für Schanghai allein ist der Index auf 17 Prozent seines Vorjahresniveaus gefallen. Da über 80 Prozent des Frachtvolumens in China per Lkw befördert werden, deuten diese Zahlen auf einen Beinahezusammenbruch des Inlandsfrachtverkehrs hin.

Darüber hinaus ist der Caixin Composite PMI Index, der Daten von rund 400 Unternehmen nutzt, um die Wirtschaftstrends im privaten Sektor in China nachzuvollziehen – und Umsatz, Neubestellungen, Beschäftigung, Lagerbestände und Preise misst –, auf den Wert von 37,2 gefallen, gegenüber 43,9 im März. Ein PMI-Wert unter 50 bedeutet, dass die Wirtschaft schrumpft. Die steil zurückgehende Wirtschaftsaktivität in China wird zwangsläufig weltweite Folgen haben, doch zumindest bisher werden dafür kaum Vorbereitungen getroffen.

"Die globale Inflation könnte sich in eine globale Depression verwandeln."

Diese negativen Ergebnisse werden weiter an Schwung gewinnen, bis Xi den Kurs wechselt – was er nie tun wird, weil er keinen Fehler zugeben kann. Der Schaden, der noch zusätzlich auf eine Immobilienkrise trifft, wird so groß sein, dass er sich auf die Weltwirtschaft auswirken wird. Angesichts der Destabilisierung der Lieferketten könnte sich die globale Inflation in eine globale Depression verwandeln.

"Der Zusammenhalt Europas wird auf eine schwere Probe gestellt werden."

Für den Westen besteht das Dilemma im Umgang mit Russland darin, dass Putin, je mehr er geschwächt wird, umso unberechenbarer wird. Die EU-Mitgliedsstaaten spüren diesen Druck. Es ist ihnen bewusst, dass Putin womöglich nicht warten wird, bis sie alternative Energiequellen erschlossen haben, bevor er ihnen selbst den Gashahn zudreht, solange das noch wirklich wehtut – so wie er das gegenüber Bulgarien, Polen und Finnland getan hat.

Das in der letzten Woche vorgestellte Programm "Repower EU" spiegelt diese Ängste wider. Scholz im Besonderen ist nervös aufgrund der von Merkel mit Russland geschlossenen Sondervereinbarungen. Draghi ist mutiger, obwohl Italien fast so sehr vom Gas abhängig ist wie Deutschland. Der Zusammenhalt Europas wird auf eine schwere Probe gestellt werden, doch wenn es weiterhin gemeinsam handelt, könnte das sowohl die Sicherheit der europäischen Energieversorgung als auch Europas Führungsrolle in Bezug auf den Klimawandel stärken.

Unwahrscheinlicher Herrscher auf Lebenszeit

Was ist mit China? Xi hat viele Feinde. Niemand traut sich, ihn direkt anzugreifen, weil er alle Instrumente der Überwachung und Unterdrückung kontrolliert. Doch ist wohlbekannt, dass sich die Uneinigkeit innerhalb der Kommunistischen Partei verschärft hat (...). Entgegen den Erwartungen wird Xi seine begehrte dritte Amtszeit aufgrund der Fehler, die er gemacht hat, möglicherweise nicht bekommen. Doch selbst wenn, wird ihm das Politbüro womöglich bei der Auswahl der Mitglieder des nächsten Politbüros keine freie Hand lassen. Das würde seine Macht und seinen Einfluss stark verringern und es unwahrscheinlicher machen, dass er Herrscher auf Lebenszeit wird.

Derweil hat der Kampf gegen den Klimawandel angesichts des in der Ukraine wütenden Krieges zwangsläufig eine Nebenrolle gespielt. Doch sagen uns die Fachleute, dass wir damit bereits deutlich im Rückstand sind und der Klimawandel kurz davor steht, unumkehrbar zu werden. Das könnte das Ende unserer Zivilisation bedeuten. (...)

Wir müssen daher all unsere Ressourcen mobilisieren, um den Krieg rasch zu Ende zu bringen. Der beste und womöglich einzige Weg zur Rettung unserer Zivilisation besteht darin, Putin zu besiegen. Darauf läuft es unter dem Strich hinaus. (George Soros, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 25.5.2022)