Für Kinder ist nicht nur die neue Sprache wichtig, sondern auch das weitere Lernen des Ukrainischen.
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Der seit Monaten tobende Krieg in der Ukraine hat bereits mehr als 6,5 Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Allein in Österreich sind mittlerweile knapp 70.000 Menschen aus der Ukraine als Kriegsvertriebene registriert, die hier Schutz und ein wenig Normalität im Alltag suchen. Die Hilfsbedürftigkeit ist groß, zumal es sich bei rund einem Drittel der Geflüchteten um Minderjährige handelt.

Für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen ist es einerseits wichtig, möglichst rasch Deutsch zu lernen, um im Kindergarten oder in der Schule gut integriert werden zu können. Wie wichtig es zudem ist, dass die Kinder auch weiterhin Unterricht in Ukrainisch erhalten, weiß die Linguistin Oksana Turkevych. Sie forscht und publiziert zur Vermittlung von Ukrainisch als Herkunftssprache und kann ihre Arbeit dank einer Unterstützung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) für zwei Monate in Österreich fortsetzen.

Hilfe durch Lehrbücher

Turkevych ist außerordentliche Professorin an der Abteilung für angewandte ukrainische Linguistik der Nationalen Iwan-Franko-Universität in Lwiw im Westen der Ukraine und lehrt ausländische Studierende Ukrainisch. Ihr Doktorat hat sie vor zehn Jahren mit einer Arbeit über den Ukrainischsprachunterricht gemacht und ist diesem Thema treu geblieben. Ihre Lehrbücher werden zum Beispiel in Kanada verwendet, um die Kinder der dort zahlreichen ukrainischen Auswanderer in ihrer Herkunftssprache zu unterrichten. Auch in Europa sind sie im Einsatz.

Als am 24. Februar der russische Angriff auf die Ukraine begann, heulten in der Folge auch in Lwiw immer wieder die Sirenen. "Meine sechsjährige Tochter hat sehr viel geweint, und wir hatten Angst. Wir sind deshalb zu meinen Eltern aufs Land gezogen", sagt Turkevych zum STANDARD. In der ersten Woche seien sie damit beschäftigt gewesen, einen Schutzraum einzurichten, Lebensmittel zu besorgen und alles für den Ernstfall vorzubereiten.

Außerdem unterstützten sie Landsleute, die zu Tausenden in den Westen des Landes geflüchtet waren. Als sie von einem Kollegen erfahren habe, dass die ÖAW einen "Ukraine-Emergency-Call" ausgeschrieben hat, um Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus der Ukraine zu unterstützen und ihnen die Fortsetzung ihrer Arbeit in Österreich zu ermöglichen, habe sie sich sofort beworben: "Ich dachte, als Wissenschafterin kann ich auf diese Weise besser helfen."

Flucht nach Österreich

Als Kontaktperson in Österreich diente Michael Moser von der Universität Wien. Im vergangenen Sommer fungierte Moser, der zur Geschichte der slawischen Sprachen und dabei vor allem zu Ukrainisch, Russisch und Polnisch forscht und lehrt, bereits als Turkevychs Betreuer. War sie damals von der Agentur für Bildung und Internationalisierung (OeAD) eingeladen worden, sollte sie nun im Rahmen der ÖAW-Initiative an die Slawistik zurückkehren. "Frau Turkevychs Expertise benötigen wir jetzt auch deswegen, weil wir an unserem Institut einen Lehramt-Studiengang Ukrainisch in die Gänge bringen wollen", sagt Moser zum STANDARD .

Kurz nach der Bewerbung überschlugen sich die Ereignisse. Am 13. März wurde ein Militärstützpunkt etwa 40 Kilometer nordwestlich von Lwiw vom russischen Militär bombardiert, mindestens 35 Menschen wurden getötet, 134 verletzt.

Das Dorf, in dem die Eltern von Oksana Turkevych nahe der polnischen Grenze leben und das bisher sicher schien, war kein Zufluchtsort mehr. Turkevych ging mit ihrer Tochter nach Polen und fuhr mit einem Freund nach Wien. Ihr Mann musste in der Ukraine zurückbleiben. Bald nach ihrer Ankunft in Österreich erhielt sie schließlich die Zusage für das Stipendium der ÖAW.

Sowohl bei der Forscherin als auch bei Moser ist die Freude und Dankbarkeit groß, dass es mit dem Projekt an der Universität Wien geklappt hat. Bis Ende Mai kann Turkevych nun zu ihrem Thema "Ukrainisch (als Muttersprache) in Österreich: ein altes/neues Phänomen unter modernen Bedingungen" forschen.

Oksana Turkevych: "Das Ukrainische zu pflegen hat kulturelle und politische Bedeutung."
Foto: privat

Ihre Forschungsarbeit zur Didaktik des Unterrichts von Ukrainisch als Muttersprache will sie als Open-Access-Publikationen kostenlos und uneingeschränkt zur Verfügung stellen, damit Lehrpersonen und die vertriebenen ukrainischen Kinder davon profitieren können. Das Ukrainische zu pflegen hat der Forscherin zufolge auch kulturelle und politische Bedeutung, denn die Sprache wurde in der Geschichte das Landes immer wieder als Instrument von Herrschaft und Unterdrückung missbraucht: 1876 verbot der russische Zar Alexander aus Angst vor Separatisten ukrainischsprachige Publikationen.

Mit der Gründung der Ukrainischen Volksrepublik 1918 wurde Ukrainisch zur Staatssprache. In der Sowjetzeit wurde dann jedoch das Russische forciert. "Als meine Mutter studierte, wurde an ihrer Universität nicht in Ukrainisch unterrichtet", erzählt Turkevych. 1991 wurde die Ukraine unabhängig, doch es gebe immer noch Diskussionen, welche Wörter und Begriffe echtes Ukrainisch seien und welche russifiziert.

Hilfe für 100 Forschende

Ungeachtet der erfüllenden Arbeit bleibt Turkevychs persönliche Situation wie für viele andere Geflüchtete herausfordernd: "Phasenweise schaffe ich es gut, mich zu konzentrieren, aber wenn ich aus der Ukraine von Angriffen erfahre, geht es mir schlecht."

Eine große Unterstützung sei, dass sie im Haus einer Familie in Neusiedl am See wohnen und arbeiten könne und ihre Tochter dort zwei gleichaltrige Spielkameraden habe. Telefonate mit Verwandten würden jedes Mal Heimweh auslösen, aber an eine Heimkehr sei derzeit nicht zu denken: "Ich habe mich in Österreich, Deutschland und Polen um Forschungsförderungen beworben, und im Juli werde ich an der Sommerschule der Universität Wien einen Ukrainischkurs für österreichische Studierende halten."

Mit dem akademischen Programm "Joint Excellence in Science and Humanities" der ÖAW konnten bereits 100 Forscherinnen und Forscher, die die Ukraine verlassen haben, unterstützt werden. Die Auswahl der eingereichten Projekte erfolgt nach einem beschleunigten Peer-Review-Verfahren, die Stipendien gelten für maximal vier Monate an einer Forschungseinrichtung in Österreich. (Sonja Bettel, 5.6.2022)