Dynamo Dresdens Fans überschritten nach dem 0:2 Grenzen.

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Dresden – Es hätte alles so romantisch sein können. Der beginnende Sonnenuntergang spechtelte in das Rudolf-Harbig-Stadion und beleuchtete die dekorative Wolkendecke wie ein orangeroter Scheinwerfer. Eine laue Brise trug Frühlingsluft in die Arena, 22 Mann warteten auf den Anpfiff des Schiedsrichters. Dann machte es Bumm und wieder Bumm, und dann schrien zehntausende Kehlen "Dynamo! Dynamo!", und wieder ein Bumm.

Es geht hier um die Relegation der zweiten und dritten deutschen Liga, konkret um Dynamo Dresden vs. 1. FC Kaiserslautern. Vielleicht hätte diesen Text statt eines Sportredakteurs ein Pyrotechniker schreiben sollen, er hätte mehr Fachkompetenz zum zentralen Thema liefern können. Noch vor Anpfiff flog die erste Rakete aus dem Gästeblock in die Heimfans, mehrmals knallte es ohrenbetäubend. Hier trafen zwei der frenetischsten und, ja, in Dresdens Fall auch problematischsten Fangruppen Deutschlands aufeinander.

Diese Rakete landete in der Dresdner Südkurve.
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Dass ein Spiel wirklich wichtig ist, merkt man daran, dass zwei Stadien gleichzeitig ausverkauft sind. In Dresden drängten sich 32.000, in Kaiserslautern gaben sich 7.500 das Public Viewing auf dem Betzenberg. Das Hinspiel hatte 0:0 geendet, auch Wettanbieter konnten keine Favoriten ausmachen. Dresdens Kicker hatten in den Tagen vor dem Showdown betont, sich von ihren Fans zum Klassenerhalt tragen lassen zu wollen. Die schienen mit im Boot zu sein, machten gewaltig Lärm. Freilich: Auch in Österreich gibt es Fanszenen, die an guten Tagen durchsingen – aber auf die Dresdner Nordtribüne passen 9.000 Nasen.

Es hat etwas Unwirkliches, bei gefühlten 140 Dezibel einen Kick auf dem Niveau von Ried gegen Hartberg zu erleben. Wegspringende Bälle, abgerissene Schüsse, jenseitige Kurzpässe: Ein Panini-Album der technischen Fehler hätte sich locker füllen lassen. Der einzige fußballerische Lichtblick war Dynamos Dribblanski Ransford-Yeboah Königsdörffer, aber auch seine Geniestreiche waren rar gesät. Doch selbst Rumpelfußball kann sich einfach richtig anfühlen, wenn ihn der Hintergrundlärm zum Hochamt erhebt.

Pyro, Pyro

Es gehört zu den Ritualen des deutschen Fußballs, dass der Stadionsprecher die Anhängerschaft für jeden angezündeten Bengalo ermahnt. Meistens sind es Variationen von "Bitte, unterstützt die Mannschaft, aber ohne Pyrotechnik", doch in einem Spiel wie diesem gehen die Varianten aus. Ein Schmankerl des Sprechers: "Denkt an die Kohle, die das kostet, die könnten wir gebrauchen." Die Antwort des Dynamo-Fanblocks kam als an den DFB gerichtetes Transparent: "Verreckt an unser'm Geld!" Der klein dazugeschriebene Nachsatz sei aus Pietätsgründen weggelassen.

Auch der Gästesektor sorgte regelmäßig für Zusatzbeleuchtung.
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Minute 42: Dynamo holt seinen zweiten Eckball heraus, das Stadion bebt. Die Ausführung: ir-gend-was. Kurz vor der Pause gab es doch noch zwei Großchancen: Königsdörffer jagte einen Schuss ins Außennetz, Michael Sollbauer setzte einen Halbvolley drüber. Ja, dieser Michael Sollbauer: 32 Jahre alt, 280 Spiele als WAC-Verteidiger, dann 54 für Barnsley, seit dem Sommer in Dresden, seit November Vizekapitän.

Alte Bekannte

Der Österreich-Bezug der Partie lud zur Zeitreise ein, denn für den FCK stürmte Terrence Boyd. In der hiesigen Bundesliga gelang dem damaligen Rapid-Stürmer gegen Sollbauer in sieben Spielen weder ein Tor noch ein Assist. Um von Kryptonit zu sprechen, ist die Stichprobe etwas klein, doch in den übrigen 52 Bundesliga-Partien für Grün-Weiß kam Boyd auf 36 Scorerpunkte. Fast ein Jahrzehnt später entwischte der Torjäger seinem altbekannten Bewacher in der 58. Minute, Dresdens Goalie Kevin Broll entschärfte den wuchtigen Kopfball aber grandios.

Der Österreicher Michael Sollbauer montierte den Deutsch-US-Amerikaner Terrence Boyd weitgehend ab.
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Aber dann, die 60. Minute: Daniel Hanslik schießt, Daniel Hanslik trifft, Kaiserslautern steht mit einem Fuß in der zweiten Liga. Es ist oft spannend zu sehen oder vielmehr zu hören, wie Fankurven auf ein Gegentor reagieren. In der "oberen" Relegation am Vortag zog das 0:2 dem zuvor recht lauten HSV-Support den Stecker, diesmal verschob das Goal die akustische Hoheit nur kurz in den roten Sektor. Dynamo kam auf, wurde nun ebenso gefährlich. Nun war jeder Standard fast ein Tor, aber eben nur fast: Zweimal klärten die Roten Teufel nach Eckbällen im Flipper-Modus, zudem tapste Torhüter Matheo Raab einen Freistoß an die Querlatte.

SPORT1

Wenn der Ball wieder einmal Zentimeter vor dem Lautern-Tor herumsprang, schien der Sauerstoff aus dem Stadion gesogen zu werden. Als würden alle einatmen und sich zur großen Eruption bereitmachen – aber das Ventil öffnete sich partout nicht. Dynamos Panagiotis Vlachodimos tauchte alleine vor Raab auf, wieder nichts (86.). Die Gastgeber rannten an, stemmten sich bei aller technischen Unzulänglichkeit gegen den Abstieg. Boyd vergeigte im Konter eine hundertzehnprozentige Chance auf das 2:0, Philipp Hercher machte es in der Nachspielzeit besser.

Eskalation

Und wieder machte es Bumm. Dynamos Ultras gaben einander mit Krachern der illegalen Kategorie Hörschäden mit, unzählige Bengalos flogen auf den Rasen. Der Stadionsprecher verzweifelte: "Leute, ich appelliere an eure Vernunft! Bitte, seid ihr wahnsinnig? Unterlasst das!" Minutenlang standen die Spieler in sicherem Abstand zur Nordkurve, die Lautern-Spieler diskutierten mit Referee Daniel Siebert. In den ersten Reihen des Fanblocks begann es an zwei Stellen zu brennen. Auf der anderen Seite des Stadions feierten die Gästefans, ihr Spruch "Der Betze brennt" ist anders als in Dresden nur Metaphorik.

Nach einer siebenminütigen Unterbrechung ging es weiter, während eines ohnehin vergeigten Konters segelte wieder rotes Feuer auf das Feld. Goalie Broll kümmerte sich höchstpersönlich darum, es war schon egal. Mit einem 2:0 kehrte der 1. FC Kaiserslautern nach vier Jahren Drittklassigkeit in die zweite Liga zurück, das vergangene Saison erst aufgestiegene Dresden muss wieder runter. (Martin Schauhuber aus Dresden, 24.5.2022)

Kaiserslautern jubelt.
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