Stalin wird in Russland von manchen bis heute verehrt.

Foto: EPA/YURI KOCHETKOV

Edouard Herriot war ein illustrer Franzose, Bürgermeister von Lyon und Regierungschef in Paris. Am 13. September 1933 kehrte er von einer zweiwöchigen Reise aus Moskau und Kiew zurück – der ersten eines Westpolitikers in der noch jungen Sowjetunion. Als der Vertreter der Radikalen Partei aus dem Zug stieg, wollten die Journalisten nur eines wissen: War etwas an den Gerüchten dran, dass Josef Stalin die widerspenstigen ukrainischen Bauern aushungere?

Herriots Antwort ist in die Geschichte eingegangen. "Eh bien", tönte er im Brustton der Überzeugung. "Ich versichere Ihnen, dass ich die Ukraine wie einen schönen, ergiebigen Garten erlebt habe, mit herrlichen Ernten. Ich habe mich an die Orte fahren lassen, die man als schwer mitgenommen bezeichnet hatte. Ich habe dort aber nur Wohlstand gesehen." Ausführlich schilderte der joviale Politiker, wie er in Kiew sogar einer Messe in der Sophienkathedrale beigewohnt habe, "mit Erzbischof, Gesängen und armen Frauen".

Schwere Hungersnot

All das war, wie man heute sagen würde, blanker Fake. Herriots Fahrt durch die Ukraine glich einer Fahrt durch Potemkin'sche Dörfer: Der Franzose sah volle Kornspeicher und gut genährte Kinder, die zu diesem Anlass herbeigeschafft worden waren und erzählten, sie äßen täglich Hühnersuppe. Die Realität sah anders aus. Die Ukraine, schon damals die Kornkammer Europas, war im Griff einer schweren Hungersnot. Ganze Dörfer wurden in einem Winter dahingerafft. Die wenigen Augenzeugen berichten davon, wie die entkräfteten Einwohner Pferde, Hunde und Katzen schlachteten, Wurzeln und Erdwürmer aßen.

26 Fotos des österreichischen Chemieingenieurs Alex Wienerberger mit Leichen auf den Gehsteigen gelangten in den Westen, dazu Berichte des britischen Journalisten Gareth Jones. Zu wenig, um der Welt die Augen zu öffnen. In Berlin war Hitler gerade an die Macht gekommen, Franzosen und Briten suchten Stalin als Verbündeten zu gewinnen. Herriots Blindheit war naiv, aber sie war auch sehr politisch.

Zuwangskollektivierung

Unbestritten ist auch: Die Hungersnot war nicht natur-, sondern menschengemacht. Sie war eine direkte Folge der Zwangskollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft und betraf nicht nur die Ukraine, sondern auch Kasachstan, Kuban und das Gebiet der Wolgadeutschen. In der Ukraine bestrafte Stalin die rebellischen Bauern, die Kulaken, aber zusätzlich. 1931 ließ er bis zu 42 Prozent der Getreideernte abtransportieren. Tonnenweise ließ er Weizen in den Dnjepr schütten. Die Folge war verheerend: Vor allem die Landbevölkerung hatte bald nichts mehr zu essen; hungernd zog sie in die Städte.

Bald mehrten sich die Hiobsbotschaften vom Sterben in der ukrainischen Sowjetrepublik. Stalin reagierte auf seine Art: Er ließ noch mehr Getreide, 3,3 Millionen Tonnen, aus der Ukraine ins Ausland exportieren. Im Jänner 1933 verabschiedete das Politbüro in Moskau zudem einen – von Stalins Schergen brutal durchgesetzten – Erlass, der das Verlassen der Dörfer bei Strafe untersagte. Für zahllose Bauern bedeutete das den sicheren Tod. Die Sterblichkeit erreichte in der Ukraine unvorstellbare 37 Prozent der Bevölkerung, wenn die dürftigen, oft gefälschten statistischen Angaben stimmen.

Brutale Strategien

Dass das Aushungern gewollt war, steht heute außer Zweifel. "Die Leute mit aufgedunsenen Bäuchen werden per Güterwagen aufs Land gefahren", schilderte der italienische Konsul in Charkiw, einer der ganz wenigen westlichen Zeugen. "50 bis 60 Kilometer von der Stadt entfernt werden sie sich selber überlassen, damit sie sterben, ohne dass man sie sieht."

Der Vorsatz äußerte sich auch darin, dass es in der Sowjetunion zu keiner Aufarbeitung kam. Wie so vieles blieb die Hungersnot in der Stalin-Ära schlicht tabu; und wenn, wurde sie geleugnet oder als "Fälschung der Bourgeoisie" abgetan. Im Kalten Krieg galt jede Historikerarbeit zu dem Thema als parteiisch. Der Sturz der Sowjetunion beendete das große Schweigen nur beschränkt und nur vorübergehend. Selbst im Westen dauerte es noch Jahre, bis man die Gründe für das eigene Wegschauen suchte – so etwa in dem bitter-sarkastischen Buch der Linguistin Iryna Dmytrychyn, "Le voyage de Monsieur Herriot".

Späte Aufarbeitung

In der Ukraine wurden in der Perestroika viele mündliche Überlieferungen von 1933 endlich niedergeschrieben. Erste Gedenkfeiern begannen, bevor das Sowjetregime am Ende war. 2006 erkannte das Parlament der Ukraine die "Große Hungersnot" als Genozid an. Die Ukrainer nennen sie "Holodomor", "Vernichtung durch Hunger".

Vierzig Staaten und Organisationen haben ihn mittlerweile anerkannt. Die EU vermied 2008 das Wort Genozid und sprach vorsichtig von "Verbrechen gegen die Menschheit". Die Historiker streiten bis heute, ob in der Ukraine und Südrussland 1933 ein eigentlicher Völkermord stattfand. Auch die Zahl der Opfer von Stalins Hungerpolitik wird mangels sicherer Quellen sehr unterschiedlich geschätzt: auf zwischen vier und sieben Millionen Menschen.

Russische Historiker wie Wiktor Kondraschin führen die Tragödie einzig auf das unproduktive Chaos der Zwangskollektivierung zurück. Stalins verbrecherische Absicht bestreitet er – trotz fortgesetzter Getreideexporte, Reisesperren und Terrorrepression. Ungesagt ordnet er sich damit in das Stalin-Revival der aktuellen Putin-Ära ein.

Wille und Ausführung

Ein zweites russisches Argument klingt auf den ersten Blick plausibler: Die Hungersnot hatte auch andere Landesteile als die Ukraine erfasst. Der französische Historiker Nicolas Werth stellt eine "bemerkenswerte Koinzidenz" zwischen den Gebieten des Widerstands gegen Moskau und den Zonen der Hungersnot fest. Das lässt nur den Schluss zu, dass Stalin den widerspenstigen Teil der Bauernschaft – das war in der Ukraine die Bevölkerungsmehrheit – eliminieren wollte. Wille und Ausführung: Damit wären die beiden Kriterien für einen Genozid erfüllt.

Bloß weiß in Russland niemand davon, wenn man von Geschichtsexperten absieht. Laut Anna Colin Lebedev, einer in Paris lebenden Historikerin für postsowjetische Geschichte, wissen die meisten Russen nichts von Stalins ukrainischem Massenmord vor 90 Jahren. "Russland krankt an seiner Geschichte, weil es sie gar nicht kennt", twitterte sie nach Beginn des Ukraine-Kriegs. Während Deutschland den Holocaust seit Jahrzehnten aufarbeitet, wird der Holodomor in Russland verdrängt, bestritten, geleugnet. Schon deshalb wäre es völlig absurd, sich vorstellen zu wollen, dass Putin die Ukrainer um Verzeihung bitten würde, wie es die deutschen Bundespräsidenten im Shoa-Memorial Yad Vashem in Jerusalem bisweilen vormachen.

Aus der historischen Perspektive wundert man sich kaum mehr über das zynische Verhalten der russischen Staatsführung von heute. Und auch nicht über den Widerstandswillen der ukrainischen Nation. Wie Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, hatte der Holodomor "konstitutive Bedeutung für das ukrainische Nationalgefühl". Putins Fehler war es, diese Millionen Hungertoten einfach zu vergessen. (Stefan Brändle, 26.5.2022)