Alix Frank-Thomasser und Michael Enzinger, Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer, präsentierten die Neuauflage des Buches.

Foto: Doris Kucera

2.541 Anwältinnen und Anwälte waren am 13. März 1938 in die Liste der Rechtsanwaltskammer Wien eingetragen. Am 31. Dezember 1938 waren es nur noch 771. Der "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 bedeutete für zahlreiche Juristinnen und Juristen das Ende ihrer beruflichen Tätigkeit – für viele von ihnen auch Vertreibung und Ermordung.

"Advokaten 1938" zeichnet die Geschichte der österreichischen Anwaltschaft unter der NS-Herrschaft nach – aus dem Blickwinkel der persönlichen Schicksale der verfolgten und entrechteten Anwältinnen und Anwälte. Am Dienstag hat der "Verein zur Erforschung der anwaltlichen Berufsgeschichte der zwischen 1938 und 1945 diskreditierten Mitglieder der österreichischen Rechtsanwaltskammern" nun die zweite Auflage des Buches präsentiert.

Die Autorinnen Barbara Sauer und Ilse Reiter-Zatloukal beschäftigen sich in der Neuauflage erstmals auch mit dem Schicksal von Berufsanwärterinnen und Berufsanwärtern, die in der Zeit von 1938 bis 1945 ihre Ausbildung nicht mehr fortsetzen konnten. Um weltweit Nachfahren und Menschen, die an der österreichischen NS-Geschichte interessiert sind, Zugang zu dem Buch zu eröffnen, wird die Neuauflage zudem erstmals ausschließlich auf Englisch veröffentlicht.

Biografien statt Zahlen

"Advokaten 1938" erinnert an 2.200 österreichische Rechtsanwältinnen und Rechtsanwaltsanwärter, die unter der NS-Herrschaft nicht nur ihren Beruf verloren, sondern zum Teil unter dramatischen Umständen verfolgt und ermordet wurden. Das Buch geht dabei allerdings über die Darstellung von Statistiken hinaus.

"Es erscheint vergleichsweise einfach, die Geschichte der österreichischen Anwaltschaft 1938 in anonymisierten Zahlen auszudrücken", sagt Alix Frank-Thomasser, Ausschussmitglied der Rechtsanwaltskammer Wien und Initiatorin des Buches. "Genau dies geschah hier nicht. Mit dieser Aufarbeitung wurde ein persönliches Gedenken durch die Veröffentlichung der Biografien der Betroffenen erstmals ermöglicht."

Persönliche Schicksale

Von den 1.830 Anwältinnen und Anwälten, die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden, deportierten die Nazis 338 in Konzentrationslager. 303 davon wurden ermordet, viele weitere begingen Selbstmord. Jene, die überlebten und flüchteten, konnten meist nicht in den Anwaltsberuf zurückkehren.

Darunter war etwa der Villacher Anwalt Marzell Glesinger, der in Israel als Lastenträger und Nachtwächter arbeitete. Oder Gustav Leipen, der in den USA von Zuwendungen seines Neffen lebte. Betroffen waren aber auch Frauen: Marianne Beth, die erste Jus-Absolventin Österreichs, wurde Ende 1938 wegen ihrer jüdischen Herkunft aus der Anwaltsliste gelöscht. Sie emigrierte in die USA, wo sie nicht mehr als Juristin arbeiten konnte.

Der Wiener Kammerpräsident Michael Enzinger lobt die "kritische Auseinandersetzung mit der österreichischen und vor allem unserer Geschichte als Rechtsanwaltschaft". Sie ermögliche es der Anwaltschaft, die "parlamentarische Demokratie wertzuschätzen und gleichzeitig an persönliche Schicksale zu erinnern". (japf, 26.5.2022)