Laut Gun Violence Archive gab es in den USA seit 2013 genau 2.128 Massenschießereien, das heißt per Definition an einem Ort vier Tote oder mehr.

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Die meisten jungen Menschen bevölkern Social-Media-Kanäle, treiben sich in Chat-Tools wie Discord herum oder streamen ihre Interessen via Twitch an die Öffentlichkeit. Ein winzig kleiner Bruchteil davon nutzt diese Medien seit knapp zehn Jahren, um mörderische Attentate anzukündigen, Fotos von Waffen zu posten oder den Zuschauern Liveeindrücke von ihrem Wahnsinn zu präsentieren.

Nach dem Anschlag am Dienstag, bei dem ein 18-jähriger Mann in einer Grundschule mindestens 21 Menschen tötete und viele weitere zum Teil schwer verletzte, stellt sich für viele erneut die Frage, ob man diese Tat hätte verhindern können. Auf seinem Instagram-Account postete der Attentäter ein paar Tage vor der Tat ein halbautomatisches Gewehr vom Typ AR-15. In seinem Profiltext stand: "Kinder sollten wirklich Angst haben."

Social-Media-Mord

Seine Antwort würde "in den Schlagzeilen" stehen, ließ ein gekündigter Journalist in den USA im Jahr 2015 seine Kollegen wissen. Mit einer Bodycam ausgestattet erschoss der Mann damals zwei seiner Ex-Kolleginnen in Roanoke, Virginia, und stellte das Video auf Facebook und Twitter. Nach ein paar Stunden erschoss er sich selbst. Das schreckliche Bildmaterial wurde erst nach 30 Minuten von den Plattformen gelöscht, zirkulierte danach aber weiterhin im Netz. In den Nachrichten wurde diese Tat damals als erster "Social-Media-Mord" betitelt.

Nur fünf Wochen später schrieb ein 26-jähriger Mann online über den Roanoke-Mörder: "Ich habe bemerkt, dass so viele Leute wie er ganz allein und unbekannt sind, aber wenn sie ein bisschen Blut vergießen, weiß die ganze Welt, wer sie sind. Ein Mann, den niemand kannte, ist jetzt allen bekannt." Ein paar Tage später tötete der Mann am Umpqua Community College neun Menschen und verletzte sieben weitere. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei verübte er Suizid.

In den Jahren danach folgen ähnlich scheußliche Amokläufe in einer fast beängstigenden Regelmäßigkeit. 2018 bespielte ein Attentäter seine Social-Media-Kanäle, bevor und während er 13 Menschen in einer Bar tötete. Im selben Jahr stellte ein Nutzer auf der umstrittenen Plattform 4Chan die Frage, ob denn schon jemand eine Massenerschießung live gestreamt habe. Im März 2019 folgte die Antwort. In Neuseeland übertrug ein Rechtsterrorist auf Facebook, wie er zwei Moscheen angriff, dabei insgesamt 51 Menschen tötete und 50 weitere zum Teil schwer verletzte.

Mittlerweile gibt es unzählige Statistiken, die sich dem Thema Massenschießereien widmen.
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Auch statistisch wurde erhoben, an welchen Orten in Schulen man besonders sicher beziehungsweise unsicher ist.
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Berühmtheiten

Immer wieder fanden sich Nachrichten auf verschiedensten Plattformen, die diese Taten ankündigen – Fotos, die Waffen oder den Täter in voller Kampfmontur zeigen. Firmen wie Bytedance oder Meta bestätigen in Kommentaren immer wieder, dass sie ihre Plattformen nach Drohungen dieser Art durchforsten. Im Dezember 2021 trendete auf Tiktok eine drohende Gefahr an US-Schulen. Während Klassen aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben und in anderen die Anzahl an Sicherheitkräften erhöht wurde, schrieb ein Sprecher von Tiktok auf Twitter: "Wir haben ausführlich nach Inhalten gesucht, die heute Gewalt an Schulen ankündigen, haben dazu aber nichts gefunden."

Auch der Streaming-Service Twitch kann nur reagieren – wie im Fall des Attentäters von Halle 2019. Damals übertrug der Mann 35 Minuten lang seinen Angriff auf eine Synagoge, bis Twitch das von Nutzern markierte Video entfernte.

Bei der Erforschung über den Zusammenhang zwischen Massenschießereien und deren Ankündigung auf Social Media gibt es verschiedene Theorien. Ganz oft wird der "Copycat"-Effekt genannt, also das Imitieren eines vorangegangenen Attentats. "Gewalttätige Ereignisse werden oft von vielen Nachrichtenportalen in höchstmöglichem Detailgrad verbreitet und erreichen durch Social Media noch mehr Menschen", schrieben einige Forscher am National Center for Health Research 2021 in einem Artikel zu dem Thema. Diese Berichterstattung kann sehr wohl zu einem Kopieren der Tat inspirieren oder zumindest zu einer ähnlichen Aktion.

Diese "ansteckende Wirkung" ist in Fällen von Selbstmord, Terrorattacken und Massenschießereien bereits nachgewiesen worden. Auch die dadurch erreichte Aufmerksamkeit sei ein großer Antriebsmotor für solche Taten. Ein großes Problem in diesem Zusammenhang seien vor allem Online-Gruppen, die die Täter feiern und offen über eine Nachahmung sprechen. Eine vermeintliche Lösung wäre laut Forschern, den Attentätern den Ruhm zu nehmen und die Geschichten rund um den Amokläufer nicht mehr zu erzählen. Dadurch könne man den Copycat-Effekt eindämmen. Zumindest bei Suiziden hätte man mit dieser Strategie bereits Erfolge feiern können, werden die Forscher zitiert.

Im Falle der Onlinedarstellung seien die Plattformen gefragt. Es müssen mehr Regulierungen und vor allem eine verstärkte Moderation oberste Priorität sein, sind sich viele Experten einig. Twitch arbeitet mittlerweile mit dem Global Internet Forum of Counter Terrorism zusammen, um die Verbreitung von Videos künftig schneller zu unterbinden. Auch andere Plattformen wollen sich dieser Zusammenarbeit anschließen. Die Vizepräsidentin von Twitch, Angela Hession, meint zu der Verantwortung einzelner Plattformen: "Am Ende sind wir alle Teil des Internets, und mittlerweile wissen wir, dass Inhalte, egal welche, kaum – wenn überhaupt – jemals auf nur einer Plattform isoliert werden können."

Traurige Bilanz

Alleine 2022 zählt die NGO Gun Violence Archive in den USA 213 Attentate, bei denen vier oder mehr Menschen getötet wurden. Mit mindestens 21 Opfern gehört das Massaker von Uvalde zu den tödlichsten, die in den USA je verzeichnet wurden.

Nur zehn Tage davor erschoss ein Mann zehn Menschen in einem Supermarkt in Buffalo. Davor veröffentlichte er ein rassistisches Manifest online, das sehr an andere Massenmörder – etwa jenem von Christchurch – erinnert. Während der Attentäter von Uvalde tot ist, wartet der Mörder von Buffalo noch auf seinen Prozess. (aam, 26.5.2022)