Im Gastblog erläutert die Juristin Andreea Muresan den OGH-Entscheid, dass die Obsorge Grenzen hat, wenn das Kindeswohl gefährdet ist.

Aus rechtlicher Sicht ist die Grundregel der Kindeserziehung, dass beide Elternteile mit der Obsorge eines gemeinsamen Kindes betraut sind. Das bedeutet, dass sich beide Elternteile um die Pflege (unter anderem Körperpflege, Herstellung, Wahrung und Erhaltung des körperlichen Wohles und der Gesundheit), Erziehung (insbesondere Entfaltung der im Kind vorhandenen Kräfte sowie Förderung nach seinen Möglichkeiten und Sicherstellung einer dementsprechenden Ausbildung), Vermögensverwaltung und gesetzliche Vertretung des Kindes kümmern müssen.

Was passiert, wenn ein oder beide Elternteile ihren Pflichten nicht nachkommen und dadurch das Kindeswohl gefährden?
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Was passiert allerdings, wenn ein oder beide Elternteile dieser Pflichten nicht nachkommen und dadurch das Kindeswohl gefährden? Das Gesetz sieht in einem solchen Fall vor, dass die Obsorge entweder zur Gänze oder in Bezug auf einzelne Bereiche der Obsorge vom Pflegschaftsgericht eingeschränkt oder entzogen werden kann; dies jedoch nur insofern, als die Handlungen der Elternteile zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen. Eine solche Gefährdung liegt dann vor, wenn die Obsorgeberechtigten – somit die Elternteile – ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen beziehungsweise durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes konkret gefährden. Wenn es tatsächlich zu einer solchen Einschränkung oder Entziehung der Obsorge kommt, kann das Gericht die entsprechenden Bereiche der Obsorge – die nun nicht mehr den Eltern obliegen – unter anderem auch auf den Kinder- und Jugendhilfeträger (KJHT) übertragen.

Klar ist, dass eine solche Maßnahme einen massiven Eingriff in das Obsoregerecht der Eltern darstellt. Daher tritt die Frage auf, in welchem Ausmaß die Gefährdung des Kindeswohls vorliegen muss, damit die Einschränkung oder Entziehung der Obsorge gerechtfertigt ist.

Gefährdung des Kindeswohl durch Münchhausen-by-Proxy-Syndrom

Der Oberste Gerichtshof (OGH) hat eben einen solchen Fall beurteilen müssen. Dabei handelte es sich um die Obsorge über zwei minderjährige Kinder (2013 und 2018 geboren). Im Dezember 2019 behauptete der KJHT, beide Elternteile würden das körperliche und psychische Wohl der Kinder gefährden, und beantragte die Entziehung der Obsorge in den Bereichen Pflege und Erziehung und der damit verbundenen Vertretung, der Aufenthaltsbestimmung und der Vertretung in medizinischen Angelegenheiten und die entsprechende Übertragung dieser Bereiche auf den KJHT. Der KJHT begründete diesen Antrag unter anderem damit, dass die Kinder immer wieder aufgrund falscher oder übertriebener Schilderungen und Behauptungen der Kindesmutter in der Art eines "Münchhausen-by-Proxy-Syndroms" einer großen Zahl von unnötigen medizinischen Untersuchungen und teilweise invasiven Behandlungen unterzogen worden seien. Eines der Kinder sei im Übrigen jahrelang als behindertes Kind mit einer Vielzahl an schweren Gebrechen dargestellt worden. Der Kindesvater sei nicht geeignet, die beiden Kinder vor den Handlungen der Kindesmutter zu schützen.

Die Eltern beantragten die Abweisung der Entziehung der Obsorge; im Übrigen wurde auch beantragt, die alleinige Obsorge über beide Kinder auf den Kindesvater zu übertragen beziehungsweise nur die Obsorge in medizinischen Angelegenheiten auf den KJHT zu übertragen. Außerdem begehrten die Eltern, dass die getrennte Unterbringung der Geschwister untersagt wird.

Infolge des Antrags des KJHT entzog das Erstgericht den beiden Eltern die Obsorge, so wie dies vom KJHT beantragt wurde. Dabei stellte das Erstgericht fest, dass den Kindern fast über ihre gesamte Lebenszeit bis zur Trennung von den Eltern durch eine Vielzahl nicht indizierter, teils massiv invasiver körperlicher Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte – die auf falsche Angaben und manipulatives Verhalten der Kindesmutter gegenüber Ärzten zurückzuführen waren – Gewalt angetan wurde und sie dadurch Schmerzen und Ängste erlitten haben. Die Mutter sei uneinsichtig und verharmlose ihr Verhalten. Es bestehe keine günstige Prognose. Der Vater setze dem Verhalten der Mutter nichts entgegen und habe sie bis zuletzt verteidigt. Die Eltern lebten im selben Haushalt, sodass eine Übertragung der alleinigen Obsorge an den Vater nicht geeignet wäre, die Gefährdung des Kindeswohls hintanzuhalten. Eine getrennte Unterbringung könne nicht ausgeschlossen werden, da für eine weitere gemeinsame Betreuung der Kinder die geeigneten Pflegeplätze nicht ausreichen würden.

OGH sah Situation anders als Rekursgericht

Die Eltern erhoben Rechtsmittel gegen diese Entscheidung, aber das Rekursgericht bestätigte die Entziehung der Obsorge durch das Erstgericht. Der OGH sah die Situation jedoch anders: Die Entziehung der Obsorge der Eltern ist laut dem OGH nur dann geboten, wenn diese ihre Erziehungspflichten vernachlässigen, ihre Erziehungsgewalt missbrauchen oder den Erziehungsaufgaben nicht gewachsen sind. Ein subjektives Schuldelement ist nicht erforderlich; allerdings muss sich die objektive Nichterfüllung oder Vernachlässigung elterlicher Pflichten – und die damit verbundene Gefährdung des Kindeswohls – aus einem bestimmten Verhalten der Eltern oder eines Elternteils ableiten lassen.

Dabei stellt der OGH klar, dass die Änderung der Obsorgeverhältnisse nur als äußerste Notmaßnahme unter Anlegung eines strengen Maßstabs und nur insoweit angeordnet werden darf, als dies zur Abwendung einer drohenden Gefährdung des Kindeswohls notwendig ist. Ferner ist es nicht erforderlich, einen sogenannten Günstigkeitsvergleich durchzuführen. In diesem Sinne darf die Obsorge eines Elternteils oder beider Eltern nicht schon dann entzogen werden, wenn ein Kind in sozialen Einrichtungen oder bei Dritten besser versorgt, betreut oder erzogen würde als bei seinen Eltern. Im Übrigen ist eine solche Maßnahme – selbst dann, wenn sie im Zeitpunkt ihrer Anordnung gerechtfertigt erschien – wieder aufzuheben, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht.

In dem vorliegenden Fall erachtete der OGH den vom Erstgericht festgestellten Sachverhalt als nicht ausreichend, um eine endgültige Entscheidung über die Entziehung der Obsorge treffen zu können. Zwar stellte der OGH fest, dass bei beiden Eltern Erziehungsdefizite vorhanden waren. Laut dem OGH hat aber vor einer solchen Entscheidung eine konkrete Gefährdungsanalyse und eine Prüfung von Alternativen zur Übertragung der Pflege und Erziehung an den KJHT zu erfolgen. Laut dem OGH erfolgte die Entscheidung der ersten zwei Instanzen primär auf Basis von Informationen aus der Vergangenheit; dabei haben die Instanzen beispielsweise nicht berücksichtigt, dass sich die Kindesmutter seit der ursprünglichen Anordnung der Maßnahme einer Therapie unterzog, und wurden die Effekte einer solchen nicht untersucht.

Laut dem OGH kann man dem Sachverhalt daher nicht ausreichend deutlich entnehmen, ob eine konkrete Gefährdung von den Eltern weiterhin ausgehen würde oder ob eine solche Gefährdung für die Zukunft gebannt oder wenigstens beherrschbar ist, weil diese etwa aufgrund ihrer mittlerweile erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen oder dank therapeutischer Fortschritte an ihren Erziehungsdefiziten arbeiten würden. Der OGH wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass unter Umständen auch gelindere Mittel – wie zum Beispiel Beratungs- und Informationsgespräche, regelmäßige externe Kontrollen (zum Beispiel der beim Sozialversicherungsträger einsehbaren medizinischen Konsultationen und Behandlungen der Kinder sowie Rücksprachen mit Schule beziehungsweise Kindergarten) sowie elterliche Meldepflichten – in Betracht kämen.

Dabei handelt es sich um Tatfragen, die vom Erstgericht – nach entsprechender Ergänzung des Verfahrens – erneut beurteilt werden müssten. Diese Entscheidung untermauert die grundsätzliche Bedeutung der Obsorge als Rechts der Elternteile, stellt aber auch klar, dass dieses seine äußerste Grenze in der konkreten Gefährdung des Kindeswohls hat (OGH 8 Ob 88/21f vom 22.10.2021). (Andreea Muresan, 27.5.2022)