Der Gouverneur des US-Bundesstaats Oklahoma hat vergangenen Mittwoch eines der strengsten Abtreibungsgesetze unterzeichnet. Im Gastkommentar zeigt Mark Medish, ein ehemaliges Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats, auf, wieso die Bundesstaaten "schlechte Hüter der Grundgesetze" sind.

"My body, my choice": In den Vereinigten Staaten sind die Abtreibungsrechte in Gefahr.
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Die US-amerikanische Republik wird derzeit vom alten rechtlichen Gespenst der Doktrin der Staatenrechte heimgesucht. Diese untote Verfassungstheorie wurde einst genutzt, um – vor dem Bürgerkrieg – die Sache der rebellierenden Sklavenhalterstaaten zu fördern und anschließend ein Jahrhundert lang die Rassentrennung in den Südstaaten zu verteidigen. Heute bedroht sie erneut die Bürgerrechte und die Fundamente der Vereinigten Staaten.

Die Theorie der Staatenrechte besagt, dass die Einzelstaaten über zentrale Freiheiten befinden können und sogar nationale politische Regelungen nullifizieren können. Und sie zieht sich wie ein roter Faden durch den kürzlich durchgestochenen Entwurf des Obersten Gerichtshofs, der die bahnbrechende Entscheidung Roe vs. Wade aus dem Jahr 1973, die die Abtreibung landesweit für zulässig erklärte, aufheben würde.

Richterlicher Aktivismus

Ein derartiges Urteil würde die USA zum Status quo ante zurückbringen, als die Einzelstaaten die Abtreibung zur Straftat erklären konnten – was vor 1973 dreißig von ihnen taten. Der Supreme Court würde also die Zeit bei den Frauenrechten um ein halbes Jahrhundert zurückdrehen und eine Büchse der Pandora öffnen: Er würde einen weitergehenden richterlichen Aktivismus ermöglichen, etabliertes Präzedenzrecht aufzuheben.

Die Doktrin der Staatenrechte beschränkt sich nicht auf die Themen Abtreibung und Privatsphäre. Sie ist eine Waffe zur "Kriegsführung mit juristischen Mitteln", die politisch rechts stehende Juristen in einer gut finanzierten rechtlichen Revolte nutzen, um damit eine Vielzahl unterschiedlicher Fragen – von der bundesrechtlichen Regulierung bis hin zum Wahlsystem – ins Visier zu nehmen. Wer dachte, der Bürgerkrieg habe das Gleichgewicht konstitutioneller Machtverteilung ein für alle Mal zugunsten der Bundesregierung und nationaler Grundrechtsstandards entschieden, muss diese Meinung nun überdenken.

Schwieriger Balanceakt

Aufgrund seines Prinzips dualer Souveränität ist der Föderalismus ein schwieriger Balanceakt. Die US-Verfassung enthält einander widersprechende Grundsätze: Die Supremacy-Klausel macht das Bundesrecht zum bestimmenden Recht des Landes, während laut zehntem Zusatzartikel bestimmte nicht näher ausgeführte Rechte "den Einzelstaaten oder dem Volke vorbehalten" bleiben.

Ein geniales, aber problematisches Merkmal der US-Verfassung ist, dass sie ein Vertrag zwischen den ursprünglich 13 und heute 50 Einzelstaaten ist. Es waren die Einzelstaaten – nicht "Wir, das Volk" –, die 1787 einen historischen Kompromiss erzielten, um die Union zu stärken (aber nicht zu sehr).

"Bundesstaaten sind schlechte Hüter der Grundrechte."

Die Doktrin der Staatenrechte steht zwar in gewissem Maß auf verfassungsmäßigen Beinen, es sind aber antiquierte, für die heutige Zeit ungeeignete Beine. Im Rückblick war es wohl ein Fehler, nach dem Bürgerkrieg nur die Sklaverei abzuschaffen; vielleicht hätte man auch die Einzelstaaten abschaffen sollen. Ein moderner Alexander Hamilton würde diese Idee womöglich befürworten.

Bundesstaaten sind im Sinne der Subsidiarität – die rein administrative Befugnisse auf subnationaler Ebene delegiert – absolut sinnvoll, aber sie sind schlechte Hüter der Grundrechte. Obwohl die Einzelstaaten der USA (in der denkwürdigen Formulierung des Supreme-Court-Richters Louis Brandeis) häufig als "Laboratorien der Demokratie" gepriesen werden, können sie sich im Rahmen der Staatenrechtsdoktrin mehr wie Brutkästen lokaler Tyrannei ausnehmen.

Tugend der Zurückhaltung

Verantwortungsvolle konservative Rechtsprechung gründete einst auf den Tugenden der Zurückhaltung der Justiz. Heutzutage jedoch hängen selbsterklärte Konservative einer widersprüchlichen Melange von Ansichten an. Hierzu gehören die der Doktrin der Staatenrechte innewohnende neokonföderierte "verlorene Sache", die vom früheren US-Vizepräsidenten Dick Cheney und vom ehemaligen US-Justizminister William Barr vertretene Theorie der "unitären Exekutive" einer imperialen Präsidentschaft und das regulierungsfeindliche Dogma einiger Silicon-Valley-Moguln wie Peter Thiel, die glauben, dass freies Unternehmertum das Gemeinwohl definiert.

Diese verwirrten Ansichten führen zu einer Exekutive, die von einem Präsidenten geleitet wird, der zugleich keinerlei Kontrolle unterliegender Kaiser und ohnmächtiger Hundefänger ist. Der Präsident hat die Befugnis, den Abschuss von Atomwaffen zu veranlassen, und übt enorme Notstandsbefugnisse aus – Donald Trump erklärte, er habe Befugnisse, die keiner kenne. Doch den dem Präsidenten unterstehenden ausführenden Behörden mangelt es an der Befugnis, eine nationale Masken- oder Impfpflicht festzulegen, um während einer Pandemie die öffentliche Gesundheit zu schützen.

Archaische Regelung

Bemerkenswert ist auch, dass die Bill of Rights (die ersten zehn Zusatzartikel der Verfassung, Anm.) ursprünglich nur die Handlungen der nationalen Regierung und nicht der Einzelstaaten beschränkte. Der Schutz der Bürgerrechte vor den Launen der Regierungen der Einzelstaaten wurde erst durch jahrzehntelanges Fallrecht des Supreme Court nach dem Bürgerkrieg ausgeweitet.

Eine ähnliche Besonderheit der US-Verfassung ist das Fehlen eines individuellen Rechts auf direkte Wahl von Präsidentschaftskandidaten. Das staatenbasierte Electoral College und nicht die direkte landesweite Wahl entscheidet über das Ergebnis. Diese archaische Regelung öffnet der Doktrin der Staatenrechte ein weiteres Tor. Eine ihrer besonders virulenten Varianten argumentiert, dass die Verfassung den staatlichen Parlamenten und nicht ihren Wählern und Wählerinnen die Befugnis zur Festlegung der offiziellen Liste der Wahlmänner und Wahlfrauen überträgt.

"Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt." (Benjamin Franklin)

Diese Theorie könnte, wenn sie durch den gegenwärtig unausgewogenen Supreme Court bestätigt würde, genutzt werden, um eine Präsidentschaftswahl zu kapern oder im Falle eines Patts die Wahl des Präsidenten gemäß zwölftem Zusatzartikel dem Repräsentantenhaus zu übertragen und so den Einzelstaaten die letztliche Entscheidung zu überlassen. Wie die Ermittlungen zur Revolte vom 6. Jänner 2021 gezeigt haben, lässt sich die Doktrin der Staatenrechte zu einem Instrument zurechtbiegen, das einen konstitutionellen Staatsstreich herbeiführt.

Die Doktrin der Staatenrechte ist eine blutsaugerische Rechtstheorie aus unrühmlicher Vergangenheit, deren Auferstehen Demokratie und Regierungsfähigkeit gefährdet. Es ist heute klarer denn je, warum Benjamin Franklin (einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, Anm.), als er gefragt wurde, welche Regierungsform der Verfassungskonvent gewählt habe, angeblich witzelte: "Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt." (Mark Medish, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 31.5.2022).