KLETTERZENTRUM IN WIEN Beim Alpenverein gibt es Trainings für Leute mit Körper- und Sinnbeeinträchtigung. Dominik trainiert in der Boulderwand, im Juni will er selbst Übungsleiter für Paraclimber sein.

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Explore" steht auf seinem T-Shirt, darunter ein gezacktes Bergpanorama. Vor rund zehn Jahren fing Franz mit dem Klettern an. Vor acht bekam der 38-Jährige die Diagnose MS: Multiple Sklerose, eine der häufigsten entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems, die hierzulande rund 14.000 Menschen trifft. Vor allem das rechte Bein bereitet Franz Probleme. "Es macht nicht immer das, was ich will", übersetzt Karin, die den gehörlosen Franz zum Training begleitet hat. Auch Balance und Feinmotorik hätten nachgelassen. Dennoch: Franz klettert weiter.

"Jeder kann klettern", sagt Alexandra Gauster. Egal ob motorisch eingeschränkt, sehbehindert oder im Rollstuhl. Die 32-Jährige organisiert und koordiniert die Paraclimbing-Gruppen beim Kletterverband Wien – ein Klettertraining für Menschen mit Körper- und Sinnesbeeinträchtigung. Beim Klettern bewege man sich intuitiv. Das sei das Natürlichste, "natürlicher noch als Gehen, weil es dem Krabbeln ähnlicher ist".

Kein Zittern in der Wand

Gauster entschuldigt sich, falls sie zu schnell sprechen sollte. "Das passiert mir immer, wenn ich von etwas fasziniert bin." Für neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson sei das Klettern eine der besten Therapien, sagt sie und erzählt von Parkinson-Patienten, deren Zittern plötzlich verschwindet, sobald sie an der Wand sind. Man trainiert Kraft, Koordination und Beweglichkeit – "aber ohne fade Übung".

Nach mehrmonatiger Corona-Pause ist die Paraclimbing-Gruppe Mitte Mai erstmals wieder zusammengekommen: Sechs Teilnehmende, die es kaum erwarten können, den Klettergurt anzulegen und in die Wand zu steigen. Mehr als 20 Meter streckt sie sich in die Höhe – rund ein Siebtel des Steffl-Turms, der ganz in der Nähe in den Himmel ragt. Als sie zum ersten Mal herwollte, sei sie glatt daran vorbeigefahren, erzählt Teilnehmerin Valerie.

So versteckt liegt das Kletterzentrum des Alpenvereins Austria im Herzen des ersten Bezirks. Die 22-Jährige ist seit zweieinhalb Jahren bei den Paraclimbern. Sie hat "Hemiparese rechts", wie sie sagt: Ihre rechte Körperhälfte ist von Geburt an gelähmt. Als sie vom Klettern erzählt, fängt ihr ohnehin schon fröhliches Gesicht an zu strahlen. Der volle Körpereinsatz, das Feeling, die Gruppe – es gebe so vieles, was ihr daran gefalle!

Der Gruppeneffekt

Bevor Valerie und die anderen an die hohe Wand dürfen, heißt es aufwärmen, stets individuell an die Gruppe angepasst. Heute hat Trainerin Gauster bunte Gummibänder auf dem mit wackeligen Matten ausgelegten Hallenboden platziert. Vorwärts, rückwärts, seitwärts, rennend und in Hasenhüpfern werden die nun von der Gruppe umrundet. Danach folgen Kraftübungen und das Einklettern in der Boulderhalle, wo die Wände maximal drei Meter hoch sind, sodass ohne Sicherung trainiert werden kann.

"Braucht jemand Hilfe, weil das Abspringen zu gefährlich ist?", fragt Gauster in die Runde. "Nicht mehr", ruft Monika und lacht. Auch sie ist seit knapp zwei Jahren bei den Paraclimbern. 2014 wurde bei ihr eine Autoimmunerkrankung festgestellt, die die Gelenke schwächt und die Koordination beeinträchtigt. "Früher konnte ich beim Bouldern nicht runterspringen, jetzt kann ich aus jeder Höhe sicher abspringen", erzählt sie stolz. Durch die ganze Halle habe man sie gehört, weil sie die Griffe mit den Händen nicht getroffen, sondern meist daneben auf die Wand geschlagen habe. Nun greift sie zielsicher nach den bunten Einbuchtungen und Knubbeln, zieht sich kraftvoll nach oben, bis in den Überhang. Immer wieder gibt Gauster Übungen vor: etwa den Tritt mit dem Fuß umkreisen, bevor man die Zehen aufsetzt. Franz kämpft mit seinem rechten Bein, nach ein paar Metern lässt er sich auf die Matte fallen. Das Bouldern ist nicht so sein Ding. Mit dem Finger zeigt er in die Luft und lacht verschmitzt. Lieber will er gleich nach oben.

Monika hilft der Sport gegen die Koordinationsprobleme, die sie seit einer Autoimmunerkrankung hat.
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"Am Anfang dachte ich, dass man alle Diagnosen einzeln trainieren muss", sagt Gauster. Doch schnell merkte sie: Die Gruppe profitiert davon, wenn sich Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen gegenseitig unterstützen. An der großen Wand wird sowieso immer in Zweierteams geklettert. Dort steigt nun Fee, eine Paraclimberin der ersten Stunde, flink nach oben – gesichert von Monika. "Ein Stück weiter rechts, etwas nach oben, mehr links", ruft diese von unten, wann immer Fees Fuß tastend nach einem Tritt sucht.

Inklusives Klettern

An der Wand nebenan klettert der 21-jährige Dominik. Sport ist seine große Leidenschaft: Im Juni will er den Übungsleiter machen, um das Klettern auch anderen beizubringen. Eine Halle weiter trainieren Valerie und Reingard, heute erstmalig dabei. Auch Reingard erhielt 2008 mit 24 Jahren die Diagnose MS. "Ich hatte schon Erfahrung mit therapeutischem Klettern, aber zu den Paraclimbern bin ich erst durch Franz gekommen." Die beiden kennen sich durch das Schulprojekt Mellow Yellow, das Inklusion mittels Kunst- und Sportworkshops spielerisch vermitteln will.

Auch das Paraclimbing trägt dazu bei, Vorurteile und Hemmungen gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen. Ende September findet in der Kletterhalle Marswiese zum wiederholten Male das vom Alpenverein organisierte "INKlettern" statt: inklusives Klettern, bei dem Menschen mit und ohne Handicap zusammenkommen. Als Physiotherapeutin nutzt Gauster das Klettern schon lange als Therapiemaßnahme. Beim Paraclimbing aber stünden der sportliche Aspekt und das Gruppenerlebnis im Vordergrund, erklärt sie.

Richtig los ging es im Vorfeld der Kletter-WM, die 2018 in Innsbruck stattfand. Damals habe der Österreichische Kletterverband viel Geld in die Hand genommen, um ein Paraclimbing-Nationalteam auf die Beine zu stellen. Gauster, die als Jugendliche selbst auf Wettkämpfen kletterte, leitete einen Workshop in Wien. Mittlerweile gibt es Paraclimbing in vielen Städten, doch "leider auch immer noch Bundesländer, wo es gar kein Angebot gibt", sagt Gauster.

Rausch der Höhe

Der Breitensport, so ihr Appell, müsse mehr gefördert werden. Alle Anwesenden bestätigen, dass sich ihr körperlicher Zustand durch das Klettern deutlich verbessert hat. Gefühlt, und auch messbar: Seit sie damit begonnen habe, habe ihre Knochendichte um zehn Prozent zugenommen, erzählt Monika. Auch "für die Psyche ist das Klettern das absolute Highlight", sagt Gauster und berichtet von einem Jungen, der in der Schule wegen seiner Lähmung gemobbt worden und beim Klettern völlig aufgeblüht sei. Oder die Rollstuhlfahrerin, die auf einem Betriebsausflug ihre Liebe zum Klettern entdeckte. Statt nach Diagnosen fragt Gauster nach Symptomen. Nicht nur bei Multipler Sklerose, der "Krankheit der 1000 Gesichter", sind Verläufe und Bedürfnisse individuell. Da das Verhältnis von Trainer zu Teilnehmern beim Paraclimbing wesentlich

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geringer als üblich ist, kann Gauster speziell auf Einzelne eingehen. Manchmal klettert sie mit, hilft beispielsweise, die Füße auf die Tritte zu setzen. "Total viele wissen gar nicht, dass es trotz körperlicher Einschränkung geht."

In der Halle in der Rotenturmstraße haben die Teams mittlerweile gewechselt. Monika zieht sich mit kräftigen Zügen nach oben. Klopfen von fehlplatzierten Griffen hört man nicht, nur das fröhliche Lachen von Valerie, die glücklich ist, dass sie nach der langen Pause wieder trainieren darf. Und auch Franz ist – endlich an der hohen Wand – zufrieden. Es dauert nicht lange, dann ist er oben. Trotz des rechten Beins, das manchmal macht, was es will. (Verena Carola Mayer, 27.5.2022)