Ärmere Haushalte würden zudem auch von einer Indexierung der Sozialleistungen profitieren, sagt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr im Gastkommentar.

Meist reicht ein Blick ins Einkaufswagerl: Lebensmittel sind empfindlich teurer geworden.
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Steigen in Österreich die Löhne mit der Inflationsrate, nimmt automatisch die durchschnittliche Steuerbelastung der Einkommen zu. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verlieren so an Kaufkraft, obwohl die preisbereinigten Bruttolöhne konstant bleiben. Schuld ist die kalte Progression.

Finanzminister Magnus Brunner schlägt aktuell vor, sie abzuschaffen. So steht es auch im Koalitionsabkommen. Die OECD in Paris empfiehlt diese Maßnahme schon lange. Die Mehrzahl ihrer Mitgliedsländer ist den Weg bereits gegangen. Österreich hinkt hinterher. Gerade in Zeiten hoher Inflation wäre es angebracht, den Schritt zu einem systematischen Inflationsausgleich in der Berechnung der Lohn- und Einkommensteuer endlich auch in Österreich zu gehen.

Progressivität des Steuersystems

Die kalte Progression bezeichnet einen Anstieg des durchschnittlichen Steuersatzes für ein real konstantes Einkommensniveau, zum Beispiel den Anstieg des durchschnittlichen Steuersatzes aufgrund einer Lohn- und Gehaltserhöhung, die lediglich den Preisanstieg (die Inflation) ausgleicht. Der Grund für dieses Phänomen liegt in der Progressivität des Steuersystems. Die Schwellenwerte, ab denen höhere Steuersätze greifen, sind nämlich in festen Eurobeträgen definiert. Übersteigt das Einkommen eine solche Schwelle, dann kommt ein höherer Steuersatz zu tragen. So passiert es, dass trotz Inflationsausgleichs bei den Bruttolöhnen die Steuerzahlenden netto real schlechtergestellt sind, weil sie einen höheren Durchschnittssteuersatz zahlen müssen. In der Staatskassa kommt es zu zusätzlichen Realeinkommen, die immer wieder in großen "Steuerreformen" an die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben werden.

Konkret heißt das: Wenn im Jahr 2022 eine Wiener Angestellte ohne Kinder 30.000 Euro im Jahr brutto verdient, bleiben gemäß dem Steuerrechner des Finanzministeriums circa 22.695 Euro netto übrig. Bei einer Inflationsrate von sechs Prozent und einer genau entsprechenden Steigerung des Bruttoeinkommens auf 31.800 Euro bleiben netto 23.534 Euro; inflationsbereinigt sind das 22.202 Euro. Das Nettorealeinkommen sinkt also um 2,17 Prozent. Bei einem Jahreseinkommen von 120.000 Euro beträgt der progressionsbedingte Nettorealeinkommensverlust nur 0,41 Prozent. Die kalte Progression schlägt dort am härtesten zu, wo die Progression des Steuertarifs am höchsten ist: bei den unteren und mittleren Einkommen. Bei den höchsten Einkommen ist die Wirkung der Progression und somit auch die anteilige Entlastung durch deren Abschaffung hingegen sehr gering.

Soziale Ungerechtigkeit

Um diese soziale Ungerechtigkeit abzuschaffen, wurden daher in vielen Ländern Mechanismen eingeführt, die mehr oder weniger automatisch eine Anpassung der Tarifgrenzen, der Freibeträge und der diversen Absetzbeträge an die Inflation vorsehen. Ein solcher Automatismus ist in der Schweiz weitgehend umgesetzt. In Schweden geht man sogar einen Schritt weiter und passt die Parameter des Steuertarifs an die Entwicklung der realen Einkommen an, sodass die Steuerbelastung auch bei Realeinkommenssteigerungen konstant bleibt. Damit beseitigt das Land die eigentlich erwünschte "heiße" Progression.

Der Nachteil solcher Automatismen besteht darin, dass fiskalpolitischer Spielraum verlorengeht. Daher scheint das deutsche Modell einen guten Kompromiss darzustellen. Dort muss das Bundesfinanzministerium regelmäßig einen Steuerprogressionsbericht vorlegen, aus dem hervorgeht, in welchem Ausmaß die Inflation durch die kalte Progression die Steuereinnahmen des Staates aufbläht. Das determiniert das Finanzvolumen, das der Staat durch eine Anpassung der Steuergrenzen und Freibeträge zurückgegeben muss. Die Entscheidung über die Details der Anpassung der Steuertarife obliegt allerdings dem Parlament. In der Konsequenz kam es seit Einführung dieses Systems im Jahr 2015 zu einer weitgehenden Neutralisierung der kalten Progression. So ist die Obergrenze der ersten Progressionsstufe in jährlichen Schritten von 13.469 Euro im Jahr 2015 auf 14.926 Euro im Jahr 2022 angehoben worden. Der Grundfreibetrag wurde prozentuell noch stärker von 8472 Euro auf 10.347 Euro erhöht.

Steuerreformen weiter möglich

Das deutsche Beispiel zeigt, dass die weitgehende Abschaffung der kalten Progression keineswegs Steuerreformen verunmöglicht. Es zeigt auch, und zwar sehr eindrücklich, dass eine solche Reform kein Steuersenkungsprogramm darstellt – die Steuerquote ist in Deutschland seit 2015 gestiegen. Sie stellt hingegen eine Bremse gegen schleichende Steuererhöhungen dar, die nie demokratisch beschlossen wurden.

Im Herbst stehen die Tarifpartner vor der großen Herausforderung, die Kaufkraft der Löhne zu erhalten. Die Eindämmung der kalten Progression würde es ihnen erleichtern, volkswirtschaftlich vertretbare Einigungen zu finden, weil Lohnsteigerungen nicht durch die Progression aufgefressen würden.

Neben der Abschaffung der kalten Progression sollte aber auch über eine systematische Indexierung der Sozialleistungen nachgedacht werden. Damit erhalten gerade ärmere Haushalte eine höhere Planungssicherheit, und die Anpassung der Leistungen wird den tagespolitischen Streitigkeiten entzogen.

Weniger Spielraum

Es ist klar, dass solche Maßnahmen den fiskalpolitischen Spielraum einengen, und zwar nicht nur auf Bundesebene, sondern über den Finanzausgleich auch in Ländern und Gemeinden. Es wird schwieriger, über schleichende Steuererhöhungen populistische "Steuerreformen" zu inszenieren, die oft genug so strukturiert sind, dass sie vor allem der Klientel der regierenden Parteien helfen. Es wird aber auch schwieriger, Strukturreformen oder – in der aktuellen Situation besonders relevant – Transferleistungen für besonders betroffene Gruppen wie untere Einkommen und Mehrkindhaushalte zu finanzieren.

Aber der wirtschaftspolitischen Kultur würde ein systematischer Ausgleich der kalten Progression guttun, weil man für Reformen oder neue Ausgabeprogramme immer auch die entsprechende Finanzierung finden muss. Geht man den deutschen Weg, bleiben genug Spielräume, um verschiedene politische Akzente setzen zu können. (Gabriel Felbermayr, 27.5.2022)