Ernst Geiger war ab den 1980ern in die Aufklärung der größten Kriminalfälle involviert.

Foto: Robert Newald

Ernst Geiger ist einer der bekanntesten Kriminalisten des Landes. Der gebürtige Wiener Neustädter kam 1978 zur Polizei und hat sich in seiner Zeit als Chefermittler im Bundeskriminalamt mit fast allen spektakulären Kriminalfällen in Wien befasst: Er ermittelte gegen den Prostituiertenmörder Jack Unterweger, fasste den Dieb der aus dem Kunsthistorischen Museum gestohlenen Saliera und versuchte – erfolglos – den Entführungsfall "Natascha Kampusch" zu lösen. 2017 ging er in Pension, seither hat er zwei Bücher geschrieben, die sich um Kriminalfälle drehen. "Heimweg" erschien im September des Vorjahres, darin verarbeitet der Jurist die drei "Mädchenmorde" von Wien-Favoriten (1988, 1989, 1990), deren Aufklärung Geiger vorantrieb. Kürzlich stellte er das Buch erneut in Wien vor. Ein Gespräch über die Faszination, die Mord auf viele ausübt, und darüber, wie sich die Kriminalität, aber auch die Polizei und ihre Arbeit im Laufe der Zeit verändert haben.

STANDARD: Sie haben kürzlich wieder Ihr Buch über die sogenannten Mädchenmorde präsentiert. Kriminalromane erfreuen sich großer Beliebtheit, im Fernsehen laufen Serien über Morde. Was macht die Faszination für Mord aus?

Geiger: Es gibt eine große Nachfrage nach meinem Buch. Wobei es einen echten Fall behandelt, was für viele bedrückend zu lesen war. Mord ist in der Unterhaltungsstruktur sicher überproportional vertreten. Schaltet man den Fernseher ein, glaubt man, in jedem kleinen Ort wird jeden zweiten Tag gemordet. Das ist aber nicht der Fall. Früher gab es mehr Mordfälle als heute, heute sind es nur mehr wenige. Ich war zwölf Jahre lang Leiter der Wiener Mordkommission. In der Zeit gab es in Wien zwischen 40 und 50 Tötungsdelikte im Jahr. Die vergangenen Jahre waren es weniger als 20, oft sind es zwölf oder 13 pro Jahr.

STANDARD: Hat sich auch die Art der Morde verändert?

Geiger: Geblieben sind vor allem die Femizide und die Morde, bei denen sich Opfer und Täter sehr nahe standen. Die hat es früher auch gegeben. Aber sie sind in der Masse untergegangen, weil sie oft weniger spektakulär waren als jene Fälle, auf die die Medien ihre Aufmerksamkeit gerichtet haben. Raubmorde, Sexualmorde, motivlose Morde oder Morde in homosexuellen Milieus gibt es heute kaum noch. Früher gab es auch mehr knifflige Morde, bei denen es schwieriger war, das Motiv einzuordnen. Das ist eine europa- und teils weltweite Entwicklung, zu der es verschiedene Theorien gibt.

STANDARD: Liegt das auch an der hohen Aufklärungsquote bei Schwerverbrechen? 95 Prozent davon werden in Österreich aufgeklärt.

Geiger: In meiner Zeit war die Aufklärungsquote auch schon sehr hoch. Es ist heute aber viel schwieriger geworden, einen Mord zu begehen und unentdeckt zu bleiben. Früher gab es keine DNA-Datenbank. Man hatte nur Blutgruppenbestimmung, die wenig geholfen hat, und Fingerabdruckspuren, aber die findet man im Freien kaum. Die Kommunikationstechnologie hat sich völlig gewandelt. Früher war man glücklich, wenn man ein Telefon- oder Notizbuch am Nachtkasterl des Mordopfers gefunden hat, heute liefert das Handy alles. Das macht es bei den geplanten Morden schwieriger, unentdeckt zu bleiben. Bei den häuslichen Delikten spielt das weniger eine Rolle, weil die ohne Planung passieren, sondern aus Emotionen wie Kränkung, Wut und Besitzstreben heraus. Die passieren, ohne dass der Täter überlegt, was danach ist.

STANDARD: Die "Favoritner Mädchenmorde" nahmen nie dagewesene Ermittlungsdimensionen an. Zwei Morde wurden aufgeklärt, für den dritten fehlten die Beweise. Haben Sie deshalb diesen Fall für Ihr Buch ausgewählt?

Geiger: Einige Fälle bleiben im Gedächtnis, an andere erinnert man sich kaum. Das war mein erster großer Fall und insgesamt einer der größten in der Geschichte der Polizei. Damals wurden eine junge Frau und zwei Kinder ermordet. Das erregte die Öffentlichkeit, in Favoriten ging eine große Angst um. Da verlangt man natürlich, dass der Fall rasch aufgeklärt wird. Wir waren also enorm unter Druck in der Polizei, aber wir konnten das nicht gleich klären. Das war eine enorme Belastung. Jedes Opfer zählt gleich, heißt es zu Recht. Aber ein Mord an einer jungen Frau und zwei Kindern bekommt eine ganz andere Form der Aufmerksamkeit.

STANDARD: Sie haben auch die Ermittlungen gegen den wegen elffachen Prostituiertenmordes angeklagten Jack Unterweger geführt, der in der Haft Suizid beging. Unterweger machte als "Häfenpoet" Karriere, er war Liebling des Literaturbetriebs und der sogenannten Society. Die Faszination, die ein Teil der Gesellschaft für ihn hegte, ist aus heutiger Sicht undenkbar.

Geiger: Unterweger ist ein ganz eigener Fall, der sich durch die Zeitströmungen der 1980erJahre erklärt: die gefängnislose Gesellschaft und Resozialisierung, die sehr viele angezogen haben. Unterweger war der manipulativste Mensch, den ich jemals kennengelernt habe. Er hat vor allem Frauen manipuliert, aber auch Behörden und Institutionen. Die ganze Wiener Gesellschaft ist auf ihn geflogen, es gab Lesungen und Aufführungen seiner Werke, die Medien räumten ihm viel Platz ein.

STANDARD: Fasziniert haben die längste Zeit auch die Alt-Wiener-Figuren der Unterwelt. Gibt es diese Unterwelt noch in irgendeiner Form?

Geiger: Die wirkliche Unterwelt gab es auch schon nicht mehr wirklich, als ich 1978 zur Polizei gekommen bin. Auch damals waren das schon Erzählungen aus der Folklore. In den 1980er- und 1990er-Jahren kamen dann in Wien mehr Jugoslawen dazu, die das Glücksspiel und die Prostitution von den Alt-Österreichern übernommen haben, was die Haupteinnahmequelle in der Unterwelt war. Die Art der Verbrechen hat sich im Laufe der Zeit aber immer wieder geändert.

STANDARD: Wie hat sich die Polizei verändert? Sichtbar sind mehr Frauen bei der Polizei.

Geiger: Die soziale Zusammensetzung ist auch anders. Früher waren viele aus dem ländlichen Raum, junge Handwerker, die einen Handwerksberuf hatten und dann später zur Polizei gewechselt haben. Es gab kaum Maturanten, und dann gab’s ein paar Juristen an der Spitze. Heute hat man hauptsächlich Maturanten, die fangen sehr früh an, mit 18 Jahren. Da sind viele Frauen dabei.

STANDARD: Sie haben in Ihrer Zeit bei der Polizei viele Höhen erlebt, aber auch Tiefen. Zu Letzteren zählt der sogenannte Polizeikrieg, in dem sowohl Sie als auch der damalige Wiener Polizeigeneral Roland Horngacher vor Gericht landeten. Sie wurden wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses verurteilt, was später aufgehoben wurde. Gehören solche Kämpfe zum Polizeileben dazu?

Geiger: Intrigen gibt es überall, ganz gefährlich sind sie aber in der Polizei und Justiz. Weil die arbeiten mit Anzeigen und Strafverfahren. (Anna Giulia Fink, 27.5.2022)