Im ostukrainischen Donbass toben erbitterte Kämpfe – zulasten der Zivilbevölkerung. Laut Kiew hat Russland bei den Kämpfen in der Region Luhansk die Oberhand, doch die Verteidiger geben nicht auf.

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Die Überreste russischer Panzer und Schwimmbrücken hängen noch immer in der Böschung des Donez-Flusses in der Ostukraine. Ein Fotograf der New York Times hat die dystopischen Szenen am nordwestlichen Rand des Donbass-Beckens festgehalten. Hier wurde die russische Armee bei ihrem Versuch, den Donbass großräumig mit einem Zangengriff von Norden her einzunehmen, vor wenigen Wochen von der ukrainischen Luftwaffe gestoppt. Von dem Vorhaben, so die übrigen Verteidiger im Donbass vom Rest der Ukraine abzuschneiden und einzukesseln, hat Russland indes offenbar abgesehen.

Doch von Aufatmen kann für die ukrainische Seite keine Rede sein: Russland konzentriert seine Offensive weiterhin auf den Donbass, wo bereits seit 2014 prorussische Separatisten Teile der dortigen Regionen Donezk und Luhansk weitgehend unter Kontrolle haben – doch mit einer neuen Strategie.

Immer wieder werden kleinere Durchbrüche der Russen an der Ostfront im Donbass gemeldet. Statt des großen Zangengriffs versucht Moskau nun zeitgleich mit mehreren kleinteiligeren Vorstößen von Osten aus ukrainische Truppen einzukesseln. Das berichtet etwa das US-Institut für Kriegsforschung ISW. Dem entsprechen auch ukrainische Berichte vom Donnerstag, wonach Russland mehr als vierzig Städte im Donbass angegriffen und den letzten großen Fluchtweg für Zivilisten aus dem Osten bedroht hat.

Sjewjerodonezk im Fokus der Kämpfe

Russland sei im Vorteil, hieß es Donnerstag beim Verteidigungsministerium in Kiew. Insbesondere gilt dies offenbar in der Stadt Sjewjerodonezk und seiner Zwillingsstadt Lyssytschansk am anderen Ufer des Donez’. Die Städte stehen unter Beschuss von drei Seiten: Es handelt sich hierbei um den letzten Fleck in der Provinz Luhansk, der noch nicht von russischen Streitkräften kontrolliert wird – und damit auch um die östlichsten Städte, die noch in ukrainischer Hand sind.

Experten befürchten eine baldige vollständige Belagerung der Städte unter massivem Widerstand der eingekesselten Ukrainer – wie schon in Mariupol. Fallen sie, erhält Russland die Kontrolle über die ganze Region Luhansk. Für Moskau wäre nach der schleppenden Offensive ein wichtiges Kriegsziel erreicht. Um die Kriegsmoral indes zu erhöhen, kündigte Kremlchef Wladimir Putin am Mittwoch eine Pensions- und Mindeslohnerhöhung an und spielte die massive Inflation runter.

Die Ukraine hat nach eigenen Angaben zudem beobachtet, dass Russland Iskander-K-Raketensysteme in die Region Brest im Westen Belarus' verlege. Dies könnte neue Angriffe auf den Westen der Ukraine bedeuten. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko ordnete die Bildung eines neuen Militärkommandos im Süden des Landes an der Grenze zur Ukraine an.

Zahlenmäßig unterlegen

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schlägt dagegen seit Tagen Alarm: Die russischen Soldaten seien den eigenen Truppen in einigen Teilen des Ostens "zahlenmäßig weit überlegen". Er spricht von einem "sehr schwierigen Moment an der Front".

Selenskyj wies jedoch erneut Vorschläge zurück, Kiew solle Moskau eines Kriegsendes wegen territoriale Zugeständnisse machen. Das hatte jüngst Ex-US-Außenminister Henry Kissinger auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vorgeschlagen. Kissinger glaube sich wohl im Jahr 1938, richtete Selenskyj dem 98-jährigen früheren NS-Flüchtling in einer Anspielung auf das Münchener Abkommen aus, bei dem Sudetengebiete in der Tschechoslowakei an Nazi-Deutschland abgetreten wurden. Dennoch ließ Adolf Hitler danach die sogenannte "Rest-Tschechei" besetzen.

Ukraine bittet um Nachschub

Auch aus Sicht des deutschen Kanzlers Olaf Scholz ist das russische Kriegsziel die Vergrößerung seines Territoriums: "Das nennt man Imperialismus", sagte Scholz in Südafrika, wo er erfolglos für den westlichen Ukraine-Kurs mit Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland warb. Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa hielt an der Enthaltung seines Landes im aktuellen Krieg fest. Auch Israel weigert sich, der Ukraine schwere Waffen zu übergeben. Jerusalem untersagte Berlin laut Axios sogar die Auslieferung israelischer Panzerabwehrraketen, die in Deutschland produziert werden.

Laut Kiew wird Nachschub aber "dringend" gebraucht. Russland sei der Ukraine bei schweren Waffen überlegen. Es gebe klare Zeichen einer russischen Eskalation und einen langen, schweren Kampf. (Flora Mory, 27.5.2022)