Amber Heard (mi.) wurde insbesondere auf sozialen Netzwerken seit Prozessbeginn massiv verhöhnt. Das könnte vielen Gewaltopfern in Erinnerung bleiben und sie einschüchtern.

Foto: EPA/MICHAEL REYNOLDS / POOL

Zu viele Details. Das kam wohl vielen in den Sinn, die den Verleumdungsprozess zwischen den ehemaligen Eheleuten Johnny Depp und Amber Heard zuletzt verfolgt haben. Zahlreiche unangenehme, peinliche und auch traumatische Einzelheiten aus dem Privatleben der Hollywoodstars gerieten in den vergangenen Wochen an die Öffentlichkeit. Wer in dieser turbulenten und in jedem Fall ungesunden Beziehung die Wahrheit sagt, kann tatsächlich niemand außer den beiden Involvierten hundertprozentig wissen. Die #JusticeForJohnnyDepp-Fraktion, die online und im echten Leben in Form von Fans vor dem Gerichtssaal enorm stark ist, hat ihr Urteil längst gefällt: Amber Heard ist eine Lügnerin.

Knapp fünf Jahre nach #MeToo, dem Hashtag, der zahlreiche Betroffene ermutigte, auf das Ausmaß sexueller Übergriffe aufmerksam zu machen, tun die Unterstützer Depps so, als ob seit 2017 jeder Frau, egal welche Vorwürfe sie gegen welchen Mann erhob, sofort geglaubt worden wäre. Und jetzt, endlich, erfahre jemand Gerechtigkeit. Dass etwa im Fall Harvey Weinstein mehr als hundert Frauen gegen den Regisseur aussagten, dass Brett Kavanaugh trotz der Vorwürfe sexueller Übergriffe bis an sein Lebensende am Supreme Court sitzen kann, dass sich immer noch ein Großteil der Betroffenen nicht zu den Behörden zu gehen traut und die Zahl von Verurteilungen und Falschbeschuldigungen gering ist – das spielt für die #JusticeForJohnnyDepp-Fraktion keine Rolle.

Der Prozess erreicht mit seiner enormen Reichweite auch zahlreiche Menschen, die sich sonst wenig mit dem Leben von Stars und Sternchen beschäftigen. Viele junge Menschen kommen etwa auf Tiktok so erstmals mit Vorwürfen rund um häusliche und sexualisierte Gewalt in Berührung. Wie Amber Heard dort wahrgenommen, angegriffen und lächerlich gemacht wird, werden sie so schnell nicht vergessen, egal wie das Urteil schlussendlich ausfällt. Wenn sie später einmal selbst von Gewalt betroffen sein sollten – laut WHO erlebt jede dritte Frau zwischen 15 und 49 Jahren sexuelle Übergriffe oder Gewalt –, werden sie sich womöglich fragen, ob sie sich ein Verfahren wirklich antun wollen. (Noura Maan, 27.5.2022)