Blaustreifensteuerbarsch- Schwarm in Costa Rica.

Foto: Imago/Gernot Kunz

Wie das wäre, ein Leben im Wasser, in einem Schwarm, ohne Herz und Hirn. Für die Meerwalnuss ist es der beste aller Zustände, da entfaltet die Rippenqualle ihre schimmernde Pracht. Dem Menschen ist sie ein Rätsel, sie ist schön und gefährlich. Und das mag er gar nicht. Vielleicht gibt es deshalb dieses Buch: Aufruhr der Meerestiere.

Das Hotelzimmer, in dem Marie Gamillscheg sitzt, sieht auch aus wie eines, passend die frühlingshafte Blumentapete im Hintergrund. Die Schriftstellerin hat mit ihrem neu erschienenen Roman Aufruhr der Meerestiere soeben eine größere Lesereise angetreten. Das Buch ist spektakulär und enthält eine Fülle an Themen von Kindheit über Väter bis zu Ökokrisen. Leichter Schwindel kommt auf, doch fügt sich alles wunderbar zusammen.

Gamillscheg (geb. 1992) verließ 2014 ihre Heimat Graz Richtung Berlin und fühlt sich seither wohl dort. Die "Literaturwelt" der Stadt, die ein Ausprobieren für sie bedeutete, betrat sie 2016 mit der digitalen Minierzählung Wenn sie kommen. Ihr Schreiben heute zeichnet sich in der Tat durch Experimentierfreudigkeit und eher abseitige Interessen aus. Wer erzählt von Bergbau, wer von Quallen?

Ihre Literatur sei nicht modisch, sagt sie. Das Schreiben sei "ihre Art, sich durch die Welt zu bewegen und diese Zwischenräume aufzuspüren, wo Fiktionales ins Leben kreuzt". Und die Kunst besteht darin, "aus einer Zeit zu sprechen und zeitlos zu sein". Kurz: Sie lebe in und mit der Sprache. Sprachverliebtheit wird also gepflegt, geht aber auf in einer formidablen Einheit aus Form und Inhalt.

Für ihren ersten Roman Alles was glänzt erhielt sie 2018 den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises. Das Buch spielt im Abgeschiedenen. Ein Bergwerk steht still, der Abbauberg "droht in sich zusammenzustürzen". Also steht auch der Ort still und lauert. Was das drohende Schicksal mit den wenigen verbliebenen Menschen macht, davon erzählt die Autorin auf multiperspektivische Weise und mit einem Maß an kunstvollem Gestaltungswillen.

Fressen und gefressen werden

Thematisch ähnlich geht es weiter. Marie Gamillscheg steigt vom Berg runter ins Wasser. Ihrem Debüt hat sie ein Motto vorangestellt, programmatisch könnte es auch auf ihren aktuellen Roman zutreffen: "Fressen und gefressen werden, das war schon immer so. Am Anfang war ein Meer." Und dann kommt der Mensch, fortan sollte eine heikle Wechselbeziehung bestehen zwischen ihm und der Natur.

Für dieses Verhältnis, aber auch für die Vereinzelung des modernen Menschen interessiere sie sich, sagt Gamillscheg. In Aufruhr der Meerestiere nimmt sie beides klug in den Blick und erzählt nebenbei von unserer "Verstrickung in die große ökologische Krise". Was die Beziehung der Menschen untereinander betreffe, so könne diese eben nicht ohne das Verhältnis zur Natur gedacht werden.

Nun geistert und schwappt die Meerwalnuss nicht nur durch die Ozeane, sondern auch durch das (berufliche) Leben der jungen Naturwissenschaftlerin Luise, die lehrt, forscht und brilliert. Bei Quallen läuft sie zur Höchstform auf, geschickt, nicht pädagogisch fließt hier wiederum naturwissenschaftliches Wissen in Literatur. Drumherum gruppiert sich der Rest eines Alltags, zu dem etwa der lose Gefährte Juri zählt. Luise hockt in sich drin, kapselt sich ab, ihren Körper hält sie unter Kontrolle. Ein Leiden ist in ihr, die sichtbar starke Neurodermitis flammt noch im Alter.

"Sie wartete darauf, dass sie aus dieser Haut herauswuchs, dass sie sie ablegen und betrachten konnte. Aber es passierte nicht." Gamillscheg hat mit ihrer Protagonistin einen faszinierenden Charakter geschaffen, dem man sich in seiner Entwicklung nicht entziehen kann. Spiegelbildlich betrachtet ist Luise nicht minder fasziniert von der Meerwalnuss.

Ihr Verhältnis zu dem Wassertier ist vielschichtig: Es ist "schreckliche Dystopie und Utopie zugleich", sagt Gamillscheg. Es löse Zeit, Form und Hierarchien auf und existiere nur als Schwarm. Ein Gebilde, das für Luise in ihrer Vereinzelung und Einsamkeit zur Sehnsucht werden sollte.

Andererseits: Das Aparte ist dahin, sobald die Meerwalnuss durch ihre massive Ausbreitung das Ökosystem bedroht. "Sie stülpen ihre Körper ineinander, übereinander, mal verstopfen sie als tonnenschwerer Glibberkontinent die Kraftwerke, mal sind sie zart und zergehen in der Gischt." Dann lautet das Narrativ Quallenplage, mit dem Luise ganz und gar nicht einverstanden ist. Schuld an der Invasivität der Art hat der Mensch, der mit seinen globalen Tankern für ihre Verschleppung sorgt.

Luises Expertise ist im Tierpark Graz im Rahmen der Entwicklung eines Aquariumhauses angefragt. Graz ist ihre Heimatstadt, der Tierpark ein Kindheitsrefugium. Fern war sie inzwischen ihrer Vergangenheit und der aufgelösten Familie. Die Trennung der Eltern vollzog sich damals ohne Aufruhr.

Graz ist zugleich eine Nichtbegegnung mit dem Vater. Während ihres Aufenthalts wird Luise in dessen Wohnung logieren. Der Vater ist erkrankt und nicht da. Da sind seine Fische und Spuren. Gamillscheg schildert die Figur des Vaters als Abwesenheit, also aus Luises erinnerter Sicht, erzählt gleichermaßen von Entfremdung und Sprachlosigkeit zwischen Vater und Tochter.

Für Luise beginnt mit dem Betreten von Stadt und Wohnung ein Erinnerungsfilm "kreuz und quer durch ihre Kinderjahre", der von kleinen Verletzungen, von Unverständnis, von späteren Vaterblicken erzählt. In Summe hat all das Luises Heranwachsen als Frau geprägt, dem der Vater mit Unbehagen, gar Ablehnung begegnet ist.

Der Held einer Tiersendung

Was macht das aus feministischer Sicht mit Töchtern, hat sich Gamillscheg gefragt. Ihr Interesse richtet sich dabei keineswegs auf den engen familiären Kontext, sondern vielmehr auf Vaterfiguren allgemein. Und so spielt sie Luise quasi noch andere Väter zu, wie den "Tierparkkönig" Schilling, einst von Luise bewunderter Held einer Tiersendung, jetzt Zoodirektor.

Nicht weniger greifbar als damals im Fernsehen wird er für sie bleiben, auch wenn sie noch so aufregende Runden mit ihm durch den Tierpark dreht. Die verstörend schönen Schilderungen vorbei an Elefanten und Antilopen stehen in Kontrast zum patriarchalen Verhältnis zwischen Mensch und Natur, das sich im Zoo besonders eindrücklich widerspiegelt.

Das Motiv der Wellen zieht sich durch den Text. Souverän überlässt ihn Gamillscheg dem Rhythmus des Wellenschlags. Sprache und Idee fließen in eins. Pulsierend werden Erinnerungen freigelegt und wieder zugedeckt. Es schieben sich Erzählebenen bruchlos ineinander, überlappen und widersprechen sich, Zeit löst sich auf, Traumsequenzen und Fantasien funkeln mitten hinein.

Gamillscheg spricht von einem "Schwarm an Geschichten", inspiriert hätten sie Christa Wolf und Ingeborg Bachmann. Ihre Sprache wuselt: ist virtuos, anspielungsreich, bildprächtig und ausgefeilt in den Beschreibungen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Ebenen spielerisch auszureizen sei die größte Herausforderung gewesen: "In diesen Sprüngen findet sich das Wahrhaftige des Textes." Tatsächlich ist der Text ein Spiel mit Wahrheiten, Perspektiven und manipulativen Erinnerungsprozessen. Und irgendwo da drin steckt Luise, im Auflösen und Werden begriffen. (Senta Wagner, 28.5.2022)