Es war bislang ungeschriebenes Gesetz – und daran haben sich alle Intellektuellen in Europa gehalten –, die Einzigartigkeit des Holocaust nicht zu hinterfragen. Vor zwei Jahren jedoch entbrannte, noch dazu in Deutschland, ein "Feuilletonkrieg", als sich der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Bundesregierung gegen das Auftreten des afrikanischen Historikers Achille Mbembe bei der Ruhrtriennale im August 2020 aussprach.

Mbembe, 2015 noch mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, war als Eröffnungsredner geladen, hatte jedoch mit seinen Äußerungen im Zuge postkolonialistischer Debatten für Aufsehen gesorgt. Dass er den Holocaust in die Geschichte des Kolonialismus einordnet, wurde ihm als Relativierung vorgeworfen, seine Kritik am Staat Israel, den er mit dem Apartheidsystem Südafrikas vergleicht, gar als Antisemitismus ausgelegt. Ein Tabubruch?

Gedenken, ohne die Geschichte zu relativieren: Natan Sznaider
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Verstörender Konflikt

Man mag es vorweg als Fluch begreifen, wenn auch in der Geschichtsbetrachtung seit einiger Zeit eine Globalisierung eintritt, bewirkt von einer außereuropäischen Perspektive, auf die man sich in Europa viel zu spät eingelassen hat – dabei gehen Mbembes Thesen auf die frühen 1990er-Jahre zurück. Natan Sznaiders aktuelles Buch Fluchtpunkte der Erinnerung ist die erste umfassende wissenschaftliche Analyse des Phänomens, wie sehr der postkolonialistische Diskurs, ob wir das wollen oder nicht, die Sicht auf den Holocaust verändert. Dass der ursprünglich aus Deutschland stammende israelische Soziologe völlig unvoreingenommen an die Problematik herangeht, ist das große Plus dieses Buches – wie verstörend dieser Konflikt auch sein mag, man muss ihn argumentieren können.

Political Correctness

Lässt sich der Holocaust tatsächlich als postkoloniales Verbrechen begreifen? Kann man Antisemitismus so einfach mit Rassismus gleichsetzen? In den letzten Jahren wird, nicht zu Unrecht, diskutiert, ob der Fokus auf den Holocaust nicht andere Massenverbrechen, Genozide außerhalb Europas, aus dem Blickfeld drängt. Dass man in Afrika den Holocaust anders bewerten und in ihm einen Alleinanspruch auf erlittenes Recht sehen mag, ist wohl verständlich, doch dürfe daraus nicht resultieren, dass man aus Gründen der Political Correctness das, was bislang Common Sense war, infrage stellt.

Genau darauf aber zielen die Postcolonial Studies ab, und es ist in den letzten Jahren regelrecht zu einem "Frontalzusammenstoß" mit den Holocaust-Studies gekommen, denn in der postkolonialistischen Perspektive wird der Holocaust nicht mehr aus Sicht des Antisemitismus, sondern in einem größeren Geschichtszusammenhang verstanden, in dem die jüdischen Opfer schließlich aus dem Brennpunkt geraten und "im Namen der Menschheit" aufgehen.

Auch wenn es dabei um Inklusion der Opfergruppen und nicht um ein Gegeneinander-Ausspielen geht, sind Widerspruch und politische Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Nicht nur droht eine Einbettung des Holocaust in den europäischen Kolonialismus, was Deutschland vor 1945 zu einem ganz "normalen" europäischen Land machen würde, der Staat Israel selbst, der auf der partikularen Erfahrung des jüdischen Volkes gründet, wird in diesem Kontext gesehen. Es eröffnen sich eine Konkurrenz zweier Narrative und die Streitfrage, wie sehr es zulässig ist, das eigene Leid, die eigene Opfergeschichte zu verallgemeinern.

Sznaider macht es sich hier wahrlich nicht einfach, er stellt die These von der Verflochtenheit der Geschichte nicht in Abrede und kommt sogar zum Schluss, dass der Holocaust mit der Diskurserweiterung in Richtung Kolonialismus keine Verharmlosung erfährt, sondern eine Kontextualisierung. Migranten bringen ihre eigenen Opfergeschichten nach Europa mit, das verändere beziehungsweise erweitere den bestehenden Narrativ vom Holocaust als größtem Menschheitsverbrechen.

Neue Erinnerungskultur

Aber: Bei allem Verständnis für die außereuropäische Perspektive könne die Shoah nicht mit Kolonialismus, Ausbeutung, Sklaverei gleichgesetzt werden. Rassismus und Antisemitismus sind trotz ähnlicher Strukturen nicht das Gleiche. Sehr wohl aber, so Sznaider, könne man den Holocaust mit anderen historischen Ereignissen vergleichen, das würde seine Singularität sogar unterstreichen. Wäre das ein neuer methodischer Ansatz?

Insgesamt gelte es zu berücksichtigen, dass Globalisierung und zunehmende "Heterogenität der Bevölkerung" eine neue Erinnerungskultur zur Folge haben, in der nicht mehr Europa im Mittelpunkt steht.

Diese Verschiebung der Perspektiven ist nichts Ungewöhnliches, aber auch nicht ungefährlich. Der Antisemitismus, hat Sznaider kürzlich im ORF bekannt, sei für ihn keine Störung im Betriebssystem, die man einfach beheben könne, sondern integraler Teil einer modernen Gesellschaft, und man könne ihn auch nicht durch Aufklärung bekämpfen, man müsse ihn hinnehmen und thematisieren. Da man mit Aktivismus ohnehin keine Problemlösung erreichen könne, plädiert Sznaider für mehr Gelassenheit im Sinne wissenschaftlicher Analyse: sich einfach allen Argumenten zu stellen und nach universalen Antworten zu suchen. Genau das tut dieses Buch.

Natan Sznaiders Buch ist einer von acht Titeln, die für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 nominiert wurden. Der Preis wird am Montag, 30. Mai, im Humboldt Forum im Berliner Schloss vergeben. (Gerhard Zeillinger, 28.5.2022)