Einige Stapel Bücher am Boden und sonst nur weiße Wände im Hintergrund. Rechts hinten im Zoom-Screen ein einziges Bild, eine Naturlandschaft. Nell Zink hat es auf einem Flohmarkt in Tübingen für zehn Euro gekauft. Das erzählt die Autorin am Ende des Interviews. Frühling in Tuttlingen heißt das Gemälde. Wäre der Bildschirm nicht längst eingefroren, würde Zink gern zeigen, wie detailliert es gemalt ist, so schön detailliert wie ihre Antworten auf die Fragen in der Interviewstunde davor.

STANDARD: Finden Sie, dass Vögel schon genug Aufmerksamkeit von uns Menschen bekommen?

Zink: Nein, das finde ich nicht. Menschen, die eh schon auf Vögel stehen, finden sie spannend, aber wenn ich meine "normalen" Freunde frage, dann sagen viele, Vögel erinnern sie eher an Fische oder Ungeziefer als an das Kindchenschema. Das sind einfach Schwarmtiere, die individuell nichts im Kopf haben. Dabei machen Vögel vieles, was Menschen auch machen: Sie kümmern sich ungemein um Partner und Immobilien.

"Vögeln geht es immer schlechter." Nell Zink.
Foto: F. Torricelli

STANDARD: Ende April haben Sie einen Prosaworkshop in der Wiener Schule für Dichtung abgehalten: "Zur Ästhetik der Vögel". Erzählen Sie uns, was da alles los war!

Zink: Ich habe für diesen Workshop meine gesamte Optik nach Wien mitgenommen, um diesen Autorinnen des Workshops die Möglichkeit zu geben, durch ein Spektiv mit 30-facher Vergrößerung zum Beispiel auf ein Teichhuhn zu schauen. Da sieht man dann, dass es knallgrüne Beine mit roten Strumpfhaltern hat, Details, durch die es erst interessant wird. Es gibt einen enormen Unterschied, ob man durch ein Fernglas für dreihundert oder dreitausend Euro schaut. Das ist dann fast politisch. Welche Menschen besitzen das Privileg, Vögel überhaupt zu sehen?

Illustrationen: Armin Karner

STANDARD: Waren Ihre Schülerinnen Birdwatching-Novizinnen?

Zink: Es waren auf jeden Fall naturliebe Menschen. Ob man einen Vogel als eine Bewegung am Rande oder eine abendfüllende Veranstaltung wahrnimmt, das hängt eben viel mit dieser Optik zusammen. Ich hatte die Befürchtung, dass sich die Teilnehmerinnen langweilen, aber die waren nach drei Stunden im Park immer noch Feuer und Flamme.

STANDARD: In der Beschreibung des Workshops ist vom "Vielvölkerstaat der Leichtgewichte" die Rede. Woher kommt bei Ihnen die Faszination für diese Spezies?

Zink: Ich war als Kind viel im Wald, und danach beim Lesen eines Artikels über die Abholzung eines Urwaldes in Washington State oder Rumänien konnte ich immer gleich heulen. Da werden uralte Bäume umgeholzt, um daraus Spanplatten oder Pellets zu machen. Es hat was Deprimierendes. Bäume können sich schlecht verteidigen. Dann habe ich zufällig über einen Übersetzungsauftrag einen Vogelschützer kennengelernt. Seine Texte über die Vögel des westlichen Balkans haben für mich eine neue ästhetische Herangehensweise eröffnet. Er hat die Vögel dadurch vermenschlicht, indem er ihre Situation beschrieben hat. Es ging um Knäkenten, also besonders schöne Langstreckenzieher, und wie sie an der Küste Montenegros davon abgehalten wurden, nach Europa einzureisen. Heute stehen an diesen Stränden keine Vogeljäger mehr, damals stand da alle 150 Meter eine Tarnhütte mit Klangattrappe und Schrotflinte. Die Kraniche sind auf einer Höhe von 500 Metern drübergesegelt, die Enten aber, die gerade aus der Sahelzone angeflogen kamen, warteten stattdessen tagelang erschöpft und hungrig auf dem Meer, bis sie sich endlich entschließen konnten, den Abschuss zu riskieren. Ich entdeckte dadurch einen neuen ästhetischen Zugang. Wenn man den Überlebenskampf wahrnimmt, sind die Bäume nur noch Kulisse und die Vögel die Akteure.

STANDARD: Vogelbeobachter stelle ich mir als sehr spezielle Menschen vor. Sind Birdwatcher immer auch Naturschützer und Naturschützerinnen?

Zink: Oh nein. Da gibt es auch kulturelle Unterschiede. Es gibt vor allem in England Menschen, die Vogelbeobachtungen einfach nur sammeln wie Münzen oder Oldtimer. Die Tradition, Vogeleier und Federn zu sammeln, ist noch nicht lange vorbei. Einige Arten sind auf diese Weise sogar ausgestorben. Tot waren sie Geld wert. Wenn man heute in Birding-Hotspots wie etwa Gibraltar ist, dann entsprechen die Typen oft dem Klischee. Unfreundliche Käuze mit auffälligem Zahnstein. Aber es gibt in der Szene immer mehr umweltbewusste junge Menschen, die wie gecastet wirken, aber das gleiche taxonomische Expertenwissen parat haben. Das macht richtig Laune, wenn so reizende junge Schönheiten Watvögel oder Möwen auseinanderhalten können.

STANDARD: Bei Helen Macdonalds "Abendflüge" steht zu lesen: "Wir adeln uns in der Wichtigkeit aktueller Klassifizierungen." Wie erkennt ein Vogelbeobachter einen anderen an?

Zink: Ich bin nach zehn Jahren immer noch Anfängerin. Meine Methode beim Birdwatchen ist, zu wissen, was die häufigsten Vögel der Region sind. Dann macht man nicht ganz so peinliche Fehler.

Illustrationen: Armin Karner

STANDARD: Führen Sie eine Liste?

Zink: Nein. Ich denke, die Vögel, die mich ansprechen, merke ich mir sowieso – und die anderen vergesse ich. Auf den organisierten Vogeltouren, die ich gemacht habe, etwa nach Peru oder nach Südafrika, werden Listen geführt, und auch ich komme leicht auf 500 Arten in zehn Tagen, aber hinterher sind immer nur ein Paar Dutzend noch richtig lebendig in Erinnerung. Manche sieht man ja auch nur flüchtig. Den surreal aussehenden Krauskopfarassari durfte ich im Amazonasbecken eine Stunde lang anstarren, den werde ich nie vergessen.

STANDARD: In Ernst Paul Dörflers Sachbuch "Liebeslust und Ehefrust der Vögel", das Sie Ihren Workshop-Teilnehmenden ans Herz gelegt haben, gibt es viele Analogien zwischen Vögeln und Menschen. Welcher Vogel wären Sie gern?

Zink: Vielleicht wäre ich gern ein Kranich, weil sie langlebig sind und viel reisen. Wenn ich mich aber frage, mit welchem Vogel ich mich identifiziere, dann denke ich eher an so Einzelgänger wie den Perlastrild. Klein und bunt sein, im Dickicht versteckt, mit einer praktisch unsichtbaren Schönheit, und leise piepsen, um den Kontakt zu Artgenossen herzustellen.

Nell Zink, "Der Mauerläufer". € 19,95 / 192 Seiten. Rowohlt-Verlag, 2017

STANDARD: In Ihrem ersten Roman "Der Mauerläufer" ging es viel darum, sich um einen verletzten Vogel zu kümmern. Was hat Sie inspiriert?

Zink: Als ein Freund von mir die zweite Tochter bekam, hat er einmal gesagt, dass die Liebe über das Kümmern entsteht. Wir investieren zuerst Energie, Mühe und Zuneigung. Erst dann kommt dieses starke Bedürfnis, etwas zu schützen. Diese Entwicklung macht auch die männliche Hauptfigur im Buch durch.

STANDARD: Was braucht es zum Birdwatchen noch außer einer sauteuren Optik?

Zink: Hauptsache, keine alten Operngläser! Und es ist gut, wenn man sich vorher um die Entdeckung der Langsamkeit gekümmert hat, indem man vielleicht Adelbert Stifters Der Nachsommer liest. Wer ein langweiliges Buch lesen kann, kann den Grad an konzentrierter Aufmerksamkeit erreichen, die notwendig ist, um Vögel an einem Ort zu suchen, wo sie kaum auffallen. Wenn ich Menschen dafür begeistern will, bringe ich sie lieber an einen Ort, wo die Vögel nicht zu übersehen sind. Südafrika und Peru sind da ganz gut, aber auch die Vogelinsel im Wasserpark in Floridsdorf, wohin ich meine Gruppe verschleppt habe. Da gab es eine Unmenge Reihernester. Niemand hatte geahnt, dass es so eine Wildnis mitten in Wien gibt.

STANDARD: Als bequemer Mensch frage ich Sie: Lassen sich Vögel auch im Liegen beobachten? Und: Muss man ein Scheitern mitkalkulieren?

Zink: Auf dem Rücken liegend lassen sich sehr schön Schwalben und Mauersegler beobachten. Ich habe einmal sogar Mauerseglersex beobachten können. Das machen die im Fliegen. Vor allem in der Zugzeit sieht man Greifvögel, die ganz hoch am Himmel vorübersegeln. Vögel zu beobachten ist eine extrem entspannende Art, spazieren zu gehen. Da ist der Weg wirklich das Ziel. Es kann extrem langsam werden. Und klar, der Frust gehört dazu. Es gibt unter hartgesottenen Birdern den Spruch, dass man die besten Vögel des Tages immer bei der Ankunft am Parkplatz sieht.

STANDARD: Haben Sie als Umweltschützerin das Gefühl, dass wir es den Vögeln immer schwerer machen?

Zink: Vögeln geht es immer schlechter. Es gibt durch die enorme Expansion der Industrie immer weniger Wildnis. Der Amazonas ist nicht klein, aber auch den Amazonas wird man noch kleinkriegen. Das Insektensterben ist ein riesengroßes Problem, weil praktisch alle Vögel ihre Küken mit Insekten füttern müssen. Um die Artenvielfalt zu schützen, braucht es inzwischen sehr aufwendige Projekte. Die werden immer erst dann initiiert, wenn es fast zu spät ist. Die Situation ist katastrophal.

STANDARD: Gibt es irgendetwas, was man als einzelner Mensch tun kann?

Zink: Es ist wichtig, sich für den Erhalt und die Renaturierung der Flusslandschaften einzusetzen. Etwa über Riverwatch von Ulrich Eichelmann, der auf dem Balkan gut vernetzt ist. Es gibt einen Fluss in Albanien, die Vjosë, der von der Quelle bis zur Mündung noch vollkommen natürlich ist. So etwas muss erhalten bleiben, damit Menschen in Europa überhaupt noch wissen, wie ein Fluss ursprünglich aussieht. Solche Projekte gehen heutzutage nicht mehr ohne viele Jahre und EU-Millionen. Den politischen Willen dazu müssen wir erzeugen, indem wir unseren Mund aufmachen.

STANDARD: In den USA erscheint gerade Ihr neuer Roman "Avalon", eine Beziehungsgeschichte. Kommen da auch Vögel vor?

Zink: Ganz am Schluss macht sich die Protagonistin auf, um endlich ihren Liebsten zu treffen, und sucht in der Natur nach Halt. Dabei sieht sie ein paar Vögel, aber die spielen keine große Rolle. Fliegende Fische kommen da als Symbol vor. Sie fliegen ja nur kurz und tauchen schnell wieder ab. (Mia Eidlhuber, 28.5.2022)