Schmiegt sich an ihren alten Diener Firs (Marcel Bozonnet) und lebt für ihre Erinnerungen: Isabelle Huppert als Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja.

Foto: Christoph Raynaud de Lage/Festival d' Avignon

Das Licht, das den Figuren Anton Tschechows eine bessere Zukunft verheißen soll, ist kein Produkt vergänglicher Kirschblüte. Am Werk gewesen sind hier Frankreichs beste Kristallschleifer. In der Halle E des Wiener Museumsquartiers hängen prächtige Luster an Laternenpfählen. Zu Bündeln vereint, rollen diese Stängel auf Schienen. Sie bilden einen Zauberwald (Bühne: Fernando Ribeiro) auf pflegeleichtem Vollholzboden.

Ansonsten gleicht Tiago Rodrigues‘ Inszenierung des Kirschgartens, vergangenes Jahr unter donnerndem Applaus in Avignon herausgebracht, einer förmlichen Absage. Der Ruin der besitzenden Klasse, die im Schatten umzuhackender Kindheitsbäume wehmütig in ihren wohlverdienten Untergang taumelt: Er interessiert hier bestenfalls am Rande. Der Kaufmann Lopachin (Adama Diop) ist eine Person of Color: ein glutäugiger Spielansager, der mit ein paar betont sachlichen Sätzen rund 120 Jahre Tschechow-Pflege im Handstreich von der Bühne fegt.

Die Gemeinde im Saal erwartet die Heimkehr der leichtlebigen Ljubow Ranjewskaja (Isabelle Huppert). Auf einer Kirschbaumplattform rollt die Diva in die russische Provinz ein. Angemessen groß ist der Bahnhof, der die in Paris verarmte Lebedame erwartet.

Eine Band stimmt zur Feier der Heimkehr Willkommensgesänge an; Domestiken und Töchter – auch diese People of Color – stürzen aufgekratzt durcheinander. Man könnte die ganze leichtsinnige Familie für ein kleineres Zirkusunternehmen halten. Nur leider, die Prinzipalin leidet unter der Verarmung Blässe. Huppert scheint entschlossen, die mit Champagner und Liebhabern töricht vergeudeten Jahre im Halbschlaf zu negieren.

Dame in gelber Bluse

Bleierne Schwere lastet auf der blasshäutigen Frau in ihrer dottergelben Bluse. Lopachins donnernde Appelle an ihr Verantwortungsbewusstsein scheinen zu versickern. Es droht die Versteigerung des überschuldeten Gutes. Sie solle dieses in Bauland umwidmen. Man müsse "Datschen bauen". Leider findet er, ein Spross vieler Generationen von Leibeigenen ("Sklaven"), bei der sedierten Dame kein Gehör.

Wunderlicherweise herrscht die prächtigste Laune: Der Kontorist der Familie, ein rechter Unglücksrabe, knirscht allerliebst mit den Stiefeln. Ljubows nichtsnutziger Bruder Gajew (Alex Descas) neigt nicht nur zu Billardsprüchen. Er richtet ungefragt Erweckungsreden an jedermann, sogar an tote Gegenstände.

Tiago Rodrigues‘ bunt zusammengewürfelte Tschechow-Truppe entwickelt phasenweise aufgeräumte Stimmung. Auf die Idee, hier könnte eine Gesellschaftsformation, die sich selbst überlebt hat, in langsamen Trippelschritten zugrunde gehen: Auf die muss niemand kommen. Mit den langsamen Tempi des zweiten und vierten Akts kann der Regisseur folgerichtig nichts anfangen. Langeweile senkt sich wie Mehltau auf Köpfe und Luster herab.

Reptilienhaftes Warten

Mit dem Gut der Ranjewskaja nimmt es, wie mit den Kirschbäumen, kein gutes Ende. Bis es so weit ist und die Nachricht von der Versteigerung an Lopachin die Runde macht, hat Isabelle Huppert ein paar Mal alle Register gezogen: Hat sich in das Geheimnis eines fast reptilienhaften Zuwartens gehüllt, um im nächsten Augenblick wie ein Pferdchen aufzustampfen. Hat ihr Portemonnaie ausgestreut und Weltverbesserern mit moussierender Laune den Kopf verdreht. Diese "Gutsbesitzerin" kann bis zur Sprödigkeit trocken sein. Im nächsten Augenblick ist sie nah am Wasser gebaut.

Huppert ist die zauberhafte Sphinx dieser doch arg pauschal erzählten Aufführung. Sie liefert, nehmt alles nur in allem, "großes Schauspielerinnentheater". Regisseur Rodrigues hat entschieden, den Balanceakt auf der russischen Epochenschwelle ausfallen zu lassen. Ihm stand der Sinn nach Zukunftsfrohsinn, nach Diversität: ein lobenswertes Unterfangen, nur leider am ungeeigneten Stück exekutiert. Das Publikum war es, mit Blick auf die Hauptdarstellerin, zufrieden. (Ronald Pohl, 27.5.2022)