An einem wunderschönen Samstagnachmittag Mitte Mai verlassen wir die U2-Endstation Seestadt durch den südlichen Ausgang und nähern uns von dort dem Jane-Jacobs-Weg, der nach der gleichnamigen Städtebau- und Architekturkritikerin benannt ist. Ziel, Auftrag, was auch immer: eine Runde um den künstlich angelegten See in der Wiener Donaustadt und Menschen treffen.

Früher war alles "smaller and nicer"

Kurz vor dem Steg, der den See in nördlicher Richtung quert, steht Zagorka (52) neben ihrem Fahrrad, ihr zehnjähriger Sohn Jan zieht daneben auf der Wellenbahn unter der U-Bahn-Trasse auf Vier-Rad-Rollschuhen Marke Starlight Express seine Runden. Sie lebten ab 2014 in der Seestadt, als hier die ersten Wohnungen übergeben wurden, "da war alles noch smaller and nicer", sagt sie, die perfekt Deutsch spricht, halb auf Englisch. Heute leben sie ein paar Minuten weiter in Aspern, und Zagorka schätzt nur noch als Besucherin "die gute In frastruktur" der Seestadt, nützt das Fitnesscenter oder die Shoppingmöglichkeiten, die im Laufe der Jahre immer besser geworden seien, und die "very nice cafés".

Früher, erzählt sie, hätten sie hier circa 1.000 Euro für 80 Quadratmeter bezahlt, was gerade noch "affordable" war. Dann lacht und schimpft sie über die Gier der "Milliardäre", die immer noch reicher werden wollten mit ihren "Investments" und dabei jeden Quadratmeter nützen würden, weswegen es ihr hier bald zu eng wurde: "Give us more space to live!"

Die auf dem Balkan geborene zweifache Mutter und Hundebesitzerin, die nicht fotografiert werden möchte, beklagt eine hier verbreitete "culture of living", die ihr nicht mehr gefallen habe, auch sei "the culture of having a dog not on a very high level". Für ihren Sohn hingegen sei die Seestadt perfekt, die nahegelegene Volksschule sei "modern", und er könne hier skaten und schwimmen. Freunde, sagt Jan, habe er hier in der Seestadt nicht so viele. Aber das sei auch egal, solange er auf der Wellenbahn unter der U-Bahn seine Runden drehen könne.

Den Steg querend, treffen wir Herrn Adrosha, einen 45-jährigen Musiker, der seit zwanzig Jahren im zehnten Bezirk lebt und heute extra "vom anderen Ende der Stadt" mit den Öffis hierhergekommen ist, zum ersten Mal. Ihn interessiert, wie diese "geplante Stadt" aussieht, die sieben Kilometer östlich der City liegt und deren Mittelpunkt der fünf Hektar große See ist, der sich mit Grundwasser speist und im neun Hektar großen Seepark liegt. Ob man darin überhaupt schwimmen dürfe, fragt er.

Der Forelle auf den Kopf

Diese Frage beantworten Luis und Sandro, zwei Zehnjährige, die mit ihren Taschen voller Badeutensilien an uns vorbeiziehen zurück Richtung Steg, zu dem wir ihnen folgen. Sie sind hier "die Stegspringer von der Seestadt", mit Potenzial für "die Klippenspringer von Acapulco". Luis ist heute schon einer "Forelle auf den Kopf gesprungen", wie er uns lachend versichert, und dann fragt er, ob es Geld geben würde, wenn er das Kunststück noch einmal probierte. Früh übt sich eben, wer mal 7.000 Euro, die der Quadratmeter Wohnfläche hier gerne kostet, auf den Tisch legen möchte. Ob es ihm hier trotzdem gefällt? "Voll!" Also springt er, auch wenn er kein Geld dafür kriegt, nicht einmal Likes oder Herzerl.

Die Stegspringer von der Seestadt in Action.
Foto: Christian Fischer

Vom Steg aus entdecken wir Emir (37), der mit schönem Baucherl und Sonnenbrille sowie einem Packerl Tschick in der Hand und Schlapfen an den Füßen auf einer Bank im Seepark sitzt, klassisch. Er kam aus dem 15. Bezirk Nähe Schwendermarkt hierher, weil es schöner nirgendwo sein könne. Wirklich? "Ich find’ schon! Es ist traumhaft!" Emir hat Verkäufer gelernt, heute hat er einen freien Samstag, sobald die Sonne scheint, folgen ihm Vater Sead (69) und Mutter Ramisa (60) hierher. Das Bier hat Emir mit in der Kühltasche, "ab und zu gehen wir aber auch zum Ströck auffe Kaffee trinken oda nemman uns mit, den Kaffee, gell Mama?".

Die Familie stammt aus Višegrad in Bosnien, am berühmten Fluss Drina gelegen, über den die berühmte Brücke führt, über die wiederum Ivo Andrić einst seinen Bestseller geschrieben hat. Sead kennt Andrić natürlich, denn er war auch mal Buchhändler, zuvor kam er freilich als 19-jähriger nach Klagenfurt und arbeitete dort vier Jahre lang bei Pago. "Bosnien ist schön", sagt Emir, "aber Österreich ist das schönste Land auf der ganzen Welt, ein Paradies auf der Erde, wirklich!"

Das Schöne im Kleinen

So viel Dankbarkeit für das Kleine, das Einfache, das Im-Leben-Erreichbare – man ist beschämt. "Wir fahren auch jedes Jahr nach Wörthersee", sagt er. "Dort ist es auch wunderschön!" In Kärnten wuchs Seads Liebe für Udo Jürgens, den er verehrt und dessen Lieder er alle auswendig kann, am häufigsten singt er "Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden". Alle paar Wochen fahren sie hinaus auf den Wiener Zentralfriedhof und legen Blumen an Jürgens' Grab nieder, das auch "wunderschön" ist, wie uns Emir versichert.

Vor 25 Jahren hatte Sead eine Notoperation an seiner entzündeten Bauchspeicheldrüse. "Wäre ich nicht in Österreich gewesen, täte ich nicht mehr leben, die haben mir das Leben gerettet, ich war fünf Wochen im Koma." Das war in Oberwart, wo er zehn Jahre bei der Gemeinde gearbeitet hat, "ich habe immer gearbeitet", sagt er.

Sead, Ramisa und Emir kommen extra aus dem 15. angereist.
Foto: Christian Fischer

Wann wirst du heiraten?, frage ich Emir zum Abschied, dessen Schwester drei Kinder hat, "die Melissa, die Sara und den Zinedine". Sead hätte eine Freundin im Burgenland, antwortet der Vater für ihn, "und er wartet und wartete und wartet auf sie. Aber die kann ihre Schwester nicht verlassen, weil die sitzt im Rollstuhl …"

Das Paradies, manchmal ist es nur schwer zu ertragen

Wir verabschieden uns von wunderbaren Menschen und entdecken Abdul (17, HTL Camillo-Sitte-Gasse), der seit zwei Jahren Seestädter ist, die alte Wohnung sei der Familie zu klein geworden, nun lebte er mit Papa und Mama sowie zwei Brüdern auf circa 100 Quadratmeter, "das passt". Zusammen mit seinen Freunden Aldin (17, HTL Mödling), Andreas (17, Ettenreich-Gym) und Chyster (18, TGM) ist er mit dem Basketball unterm Arm unterwegs in Richtung Elinor-Ostrom-Park, der nach einer US-amerikanischen Professorin für Politikwissenschaft benannt ist und im Oktober 2021 eröffnet wurde, dort gibt es – laut Stadtinfo – "170 Bäume und Regengärten". Bravo!

Dass Abdul ein guter Basketballspieler ist, streitet er ab, seine Freunde aber widersprechen heftig: "Doch, doch! Der ist ein Slam Dunker!" Anders als Aldin, der mit dem BC GGMT U19/1 letztes Jahr Wiener Meister wurde, spielt er aber in keinem Verein. Die Freunde kamen extra aus dem 10., wo sie wohnen, hierher, um mit ihm Basketball zu spielen. "Hey, das nennt man Freundschaft!", lacht Chyster. Vor dem Spielen essen sie noch ein Magnum-Eis, denn heute wäre ihr "Cheat Day", was bedeutet: Einmal wöchentlich gönnen sie sich Schrottessen, während sie ihren Körper an den anderen Tagen mit Protein befüllen und an ihrem Sixpack für die Sommersaison arbeiten. "Na bitte!", lachen sie. "Wir schauen super aus!"

Auch für Basketballer ist in der Seestadt Platz.
Foto: Christian Fischer

Ein teures Schmuckstück

Andrin ist trotz entzündeter Patellasehne ein "böser Blocker" mit einem Punkteschnitt von 17 pro Spiel, sein Ziel ist aber nicht die amerikanische NBA, in die es bisher mit Jakob Pöltl erst ein Österreicher geschafft hat, sondern die Verteidigung des Titels seiner U19. Wir wünschen gutes Gelingen!

Als NBA-Star freilich könnte er später auch mal auf Inserate reagieren, in denen solche Wohnungen angeboten werden: 49,18 m² / 3 Zimmer / € 6710,02. Schmuckstück. In einem modernen Neubau mitten in der Fußgängerzone der Seestadt befindet sich diese Traumwohnung und könnte schon bald Ihr neues Zuhause werden.

Ein etwas günstigeres Zuhause hat Jürgen (37) gefunden, der in der westlichsten Ecke des Sees zusammen mit seinem Vater gerade den Seestadt-Triathlon samt Open-Water-Swimming vorbereitet. Der Eventmanager lebt hier mit Frau und zwei Kindern in einer geförderten Eigentumswohnung, die er um 300 Tausender finanzieren konnte, Kletterwand und andere Sportangebote, die er gerne nützt, gab’s gratis dazu. Auch mit Kindergarten und Volksschule für den Nachwuchs ist er sehr zufrieden, "die Leute hier haben Kinder, Hund oder beides", lacht er, was die Kontaktaufnahme und das Schließen von Freundschaften erleichtere. Beim Tschau Tschau vorne, das gute Burger und Pommes anbietet, werden die Freundschaften gepflegt. Nur die Berge, sagt er, gingen ihm ab. Da ist es gut, dass die Schwiegereltern in Tirol leben und ihre Seestädter jederzeit willkommen heißen.

Ausgang Richtung Paradies

Zum Sonnenbaden ist Rebecca (24) extra aus dem 9. Bezirk hierhergekommen, am Schottenring stieg sie in die U2, seit 14 Uhr liegt sie auf dem Schotter. "Das ist in Wien einfach der schönste Ort zum Baden", sagt sie, die vor vier Jahren von einem Freund hierher mitgenommen wurde, "da war das alles noch nicht so verbaut." Aber auch heute sei "eigentlich eh ur wenig los", und das soll ihrem Wunsch nach auch noch länger so bleiben. Die Chancen stehen nicht schlecht, "weil den Leuten ist es eh zu weit". Die einzige Sorge der BWL-Studentin an diesem Perfect Day: "Dass ich den Master aufschieben muss, weil ich zu oft hierherkomme!"

Teilzeitmodel Rebecca genießt die Ruhe.
Foto: Christian Fischer

Im Sommer wird das Teilzeitmodel jedenfalls zwischen hier und dem Ausland pendeln, und wenn es weniger Ausland sein sollte, wird es ihr auch recht sein. Dann wird sie am Schottenring in die U2 einsteigen, und an der Endstation Seestadt wird sie den Ausgang Richtung Paradies nehmen, in dem Emir schon wieder sein Baucherl der Sonne darbietet. Und es wird "wunderschön" sein. (Manfred Rebhandl, 28.5.2022)