"Polen schafft die Disziplinarkammer am Obersten Gericht ab!" – Was auf den ersten Blick wie eine Sensation aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als schlichter Etikettenaustausch. Der Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, entschied am Donnerstagabend mit den Stimmen der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und einiger rechter Oppositions-Abgeordnete, die umstrittene Disziplinarkammer für Richter abzuschaffen. Allerdings soll diese durch eine neue andere ersetzt werden: die "Kammer für berufliche Verantwortung". Im Prinzip soll sie genauso wie die bisherige Disziplinarkammer arbeiten.

"Polen schafft die Disziplinarkammer am Obersten Gericht ab!"
Foto: REUTERS/Kacper Pempel

Ziel der PiS ist es, mit diesem Schritt die 58 Milliarden EU-Aufbauhilfe nach der Corona-Krise loszueisen, die die EU-Kommission vor gut einem Jahr eingefroren hat. Knapp 24 Milliarden Euro aus dem Paket sind reine Zuschüsse, gut 34 Milliarden Euro niedrig verzinste Darlehen. Polen hat Zeit, diese Gelder bis 2026 auszugeben und ordnungsgemäß abzurechnen.

Da Polens PiS-Regierung sich allerdings seit einiger Zeit weigert, rechtskräftig erlassene Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) mit Sitz in Luxemburg umzusetzen, beantragte die EU-Kommission beim EuGH eine Strafe von täglich einer Million Euro – bis zur Umsetzung des Urteils.

Blockierte Gelder

Zudem blockierte die Kommission die Auszahlung der EU-Aufbauhilfe für Polen. Grundlage dieser Maßnahme ist der sogenannte Rechtsstaatsmechanismus, der seit Anfang 2021 im mehrjährigen EU-Haushaltsbudget verankert ist. Alle EU-Mitgliedsstaaten hatten dieser neuen Klausel zugestimmt.

Polen und Ungarn hatte später zwar dagegen geklagt, aber mit Urteil vom Februar 2022 verloren. Die Klausel, der zufolge es nur dann Gelder aus Brüssel gibt, wenn sicher ist, dass diese nach rechtsstaatlichen Prinzipien verwendet werden, bindet auch Polen.

Die von der PiS am Obersten Berufungsgericht eingerichtete Richter-Disziplinarkammer hat mehreren EuGH-Urteilen zufolge keinen Gerichtscharakter, ist also illegal. Alle Urteile der Kammer sind ungültig, alle degradierten oder anders abgestraften Richter sind sofort wieder an ihren vorherigen Stellen einzusetzen.

"Diktat aus Brüssel"

Es war Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro, der sich monatelang querstellte und sogar bereit war, auf die EU-Milliarden für Polen zu verzichten, um sich nur dem "Diktat aus Brüssel" nicht beugen zu müssen. Da seine Partei "Solidarisches Polen" in der Koalition der "Vereinigten Rechten" der Juniorpartner der PiS ist, löste er damit eine mehrere Monate lang dauernde Regierungskrise in Polen aus.

PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński suchte zwar intensiv nach neuen Verbündeten unter rechten Abgeordneten im Sejm – doch es gelang ihm nicht, das "Solidarische Polen" in der Koalition durch eine andere Gruppierung zu ersetzen.

So kamen mehrere Gesetzesvorschläge auf den Tisch, die mal mehr den EU-Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit entsprachen, mal mehr dem Beharren des Justizministers auf seine umstrittenen Justizreformen und der Disziplinarkammer. Am Ende scheiterten alle Projekte bis auf das des Staatspräsidenten Andrzej Duda.

Formale Kriterien erfüllt

Und über dieses – stark abgeänderte – Projekt stimmte am Donnerstagabend der Sejm ab. Formal erfüllt es die EU-Forderung nach Abschaffung der Disziplinarkammer. Faktisch ändert sich aber nicht viel, denn anstelle der bisherigen Disziplinarkammer soll eine neue entstehen, die "Kammer der beruflichen Verantwortung".

Nicht verändert wird zudem das "Disziplinarverfahren in seiner bisherigen Form", wie dies EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch Mitte des Monats erneut gefordert hatte. Auch die vom EuGH als "Kern des Problems" erkannte politisierte Richterberufung wird durch die Lex Duda nicht korrigiert.

Dennoch verkündet die PiS mit Premier Mateusz Morawiecki an der Spitze schon jetzt einen riesigen "Erfolg". Am Donnerstag, dem 2. Juni, soll von der Leyen nach Warschau kommen, Polens Corona-Wiederaufbauplan feierlich bestätigen und die EU-Milliarden endlich freischalten. (Gabriele Lesser aus Warschau, 27.5.2022)