Der ehemalige griechische Finanzminister und Vorsitzende der Partei MeRA25, Yanis Varoufakis, geht im Gastkommentar der Frage nach, wie ein möglicher Verhandlungsfriede aussehen könnte und warum man sich darum bemühen sollte.

Im Jahr 1943 hatten Progressive eine moralische Pflicht, sich Forderungen nach einem Verhandlungsfrieden mit Adolf Hitler zu widersetzen. Eine Übereinkunft mit den Nationalsozialisten zur Beendigung des Gemetzels wäre unverzeihlich gewesen. Zivilisierte Menschen hatten nur die eine Option: weiterzukämpfen, bis die alliierten Truppen über Hitlers Bunker in Berlin standen. Heute dagegen wäre es ein schlimmer Fehler, einen endgültigen militärischen Sieg über Russland anzustreben und diejenigen von uns abzutun, die sich für einen sofortigen Verhandlungsfrieden aussprechen.

Wird Wladimir Putin verhandeln? Und was wären dann die Forderungen des russischen Präsidenten?
Foto: Reuters/SPUTNIK

Im Jahr 1943 ging es für die Länder, die einen endgültigen Sieg anstrebten, selbst um etwas, und alliierte Truppen und in vielen Fällen die zivilen Bevölkerungen standen mit an der Front. Heute handelt der Westen so wie die USA vor dem Angriff auf Pearl Harbor: Er steht abseits und bewaffnet und bejubelt diejenigen, die tatsächlich kämpfen. Unter diesen Umständen ist es sowohl scheinheilig als auch unverantwortlich, die Ukrainer zum endgültigen Sieg gegen Russland zu drängen, während die Nato über den Einsatz von Bodentruppen oder Kampfflugzeugen nicht einmal nachdenkt.

"Die Ukrainer träumen verständlicherweise davon, die russischen Truppen dorthin zurückzudrängen, wo sie vor dem 24. Februar standen – eine Riesenherausforderung trotz der laufenden enormen Lieferungen hochmoderner US-Waffen."

Es stellt sich die Frage, wie ein endgültiger Sieg der Ukraine aussehen würde. Die Ukrainer träumen verständlicherweise davon, die russischen Truppen dorthin zurückzudrängen, wo sie vor dem 24. Februar standen – eine Riesenherausforderung trotz der laufenden enormen Lieferungen hochmoderner US-Waffen. Viel wahrscheinlicher ist es, dass der russische Präsident Wladimir Putin, nachdem er sich an der ukrainischen Schwarzmeerküste und in der östlichen Donbass-Region eingegraben hat, einen Waffenstillstand fordern wird. In diesem Fall wäre ein niederschwelliger Abnutzungskrieg – eine Mischung zwischen Syrien und Zypern – das wahrscheinlichste Ergebnis.

Doch selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die ukrainischen Kämpfer es schaffen, die russischen Truppen komplett zurückzudrängen, würde ein verwundetes russisches Regime immer Wege finden, den Pfad der Ukraine zu so etwas wie Normalität zu behindern. Nur ein Regimewechsel ganz bestimmten Typs in Moskau ist mit der Vorstellung eines endgültigen ukrainischen Sieges vereinbar. Wie wahrscheinlich ist ein derart glückliches Ergebnis für Ukraine und Nato? Und wie vernünftig ist es, die Zukunft der Ukraine darauf zu verwetten, insbesondere angesichts der traurigen Bilanz des Westens bei früheren Bemühungen um Regimewechsel?

"Der Rubel hat sich vollständig erholt."

Tatsächlich weisen die meisten Belege in die gegenteilige Richtung. Während der Krieg für Putin schlecht läuft, läuft der Wirtschaftskrieg recht gut für ihn. Zwar leiden die unterprivilegierten Russen, Fachkräfte flüchten, und vielen Branchen gehen die Ersatzteile aus. Trotzdem erzielt Russland laut Robin Brooks vom Institute of International Finance derzeit einen gigantischen Leistungsbilanzüberschuss (der Prognosen zufolge 2022 zwischen 200 und 250 Milliarden US-Dollar erreichen könnte, nach 95,8 Milliarden US-Dollar im April). Kein Wunder, dass sich der Rubel vollständig erholt hat.

Langfristiger Abnutzungskrieg

Diese massiven Mehreinnahmen erlauben es Putins Regime, problemlos einen langfristigen Abnutzungskrieg in der Ukraine zu finanzieren. Viele Russen werden verarmen, und ihre Wirtschaft wird zu langfristiger Stagnation verflucht sein. Doch auf Putins Schachbrett sind die russischen Normalbürger bloße Bauern, die zu opfern hinnehmbar, wenn nicht gar notwendig ist, um der Ukraine langfristigen Schaden zuzufügen, während man auf das Auftreten von Rissen innerhalb der Nato wartet – insbesondere wenn die launischen westlichen Medien ihre Aufmerksamkeit erst einmal anderen Dingen zuwenden.

In diesem Kontext laufen Forderungen nach einem endgültigen ukrainischen Sieg auf eine komplette Niederlage für alle hinaus – mit Ausnahme vielleicht der Waffenhändler und der Öl- und Gasindustrie, der es kriegsbedingt auf einmal viel besser geht. Die Aussichten auf ein EU-finanziertes ukrainisches Wirtschaftswunder werden schwinden. Europa leidet schon jetzt wirtschaftlich, und die Entwicklungsländer befinden sich in der Frühphase einer durch die Störung der normalerweise aus der Ukraine und Russland kommenden Getreide- und Düngerimporte bedingten Spirale des Hungers und der Zwangsmigration. Nur ein Verhandlungsfrieden ermöglicht es, die mehrfach drohenden Niederlagen noch in einen Sieg umzuwandeln – also in ein besseres Ergebnis für die Ukraine, Europa und die Menschheit.

Ist eine faire Übereinkunft möglich?

An diesem Punkt werden nun Anschuldigungen des "Westsplaining" – oder schlimmer, der "Komplizenschaft mit Putin" – gegen diejenigen von uns erhoben, die vor dem Narrativ eines endgültigen ukrainischen Sieges warnen. "Wer seid ihr, dass ihr den Ukrainern verschreiben wollt, was sie tun sollen?", lautet ein immer wiederkehrender Refrain. Da ich mir nicht anmaße, der Entscheidung der Ukrainer vorzugreifen, lasse ich die Frage unbeantwortet und konzentriere mich stattdessen darauf, wie man die Ukrainer jetzt am besten unterstützen kann.

Wir wissen, dass diejenigen, die in einem Krieg gefangen sind, sparsam mit Verhandlungsangeboten umgehen müssen, weil sie sonst als schwach gebrandmarkt werden. Trotzdem hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in diesem Monat bestätigt, dass der Krieg ohne Verhandlungen nicht enden kann: "Trotz der Tatsache, dass sie unsere Brücken zerstören", sagte er, "bin ich der Ansicht, dass noch nicht alle Brücken zerstört sind." Die Aufgabe derjenigen unter uns, die nicht direkt am Krieg beteiligt sind, sollte darin bestehen, den Kampfparteien zu helfen, sich vorzustellen, wie ein Verhandlungsfrieden aussehen könnte – und die Dinge zu sagen, die zu sagen sie sich vor Verhandlungsbeginn nicht leisten können.

Wir sollten uns einig sein, dass bei einer fairen Übereinkunft keiner völlig zufrieden sein kann, während sie zugleich eine deutliche Verbesserung gegenüber allen denkbaren Alternativen darstellt. Beide Seiten müssen Gewinne erzielen, die ihre Verluste deutlich übersteigen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Um die Aspirationen und den tapferen Widerstand der Ukrainer gegen Putins Aggression zu ehren, muss der ins Auge gefasste Friedensvertrag vorsehen, dass sich die russischen Truppen auf ihre Stützpunkte von vor dem 24. Februar zurückziehen. Für den Umgang mit den Konflikten zwischen den Bevölkerungsgruppen im Donbass und den diesen umgebenden Gebieten kann das Karfreitagsabkommen (das den Nordirlandkonflikt beendete) konkrete Hinweise zur Konfliktbeilegung und -steuerung bieten. Und um die Ängste vor einer Wiederaufnahme der Kämpfe zu beruhigen, sollte eine breite entmilitarisierte Pufferzone rund um die russisch-ukrainische Grenze mit in den Vertrag aufgenommen werden.

Verhandelt Putin?

Würde Putin sich darauf einlassen? Womöglich ja, sofern der Vertrag ihm drei Dinge bietet. Putin wird wollen, dass die meisten Sanktionen aufgehoben werden. Er wird außerdem wollen, dass die Frage der russischen Annexion der Krim 2014 ignoriert und ihre Lösung auf einen nicht näher festgelegten Zeitpunkt in der Zukunft verschoben wird. Und er wird Sicherheitsgarantien wollen, die nur die USA ihm bieten können, darunter das Versprechen eines Sitzes an dem Tisch, an dem die neuen Sicherheitsvereinbarungen für Europa ausgehandelt werden. Die Ukraine braucht ähnliche Sicherheitsgarantien sowohl von den USA als auch von Russland; daher sollten die Freunde der Ukraine derartige Vereinbarungen unter Federführung der Vereinten Nationen und unter Beteiligung der USA und der EU planen.

Es ist natürlich nicht garantiert, dass ein Verhandlungsfrieden funktionieren wird. Eines aber ist sicher: Es wäre unverzeihlich, sich aufgrund des Irrglaubens an einen endgültigen Sieg gar nicht erst darum zu bemühen. (Yanis Varoufakis, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 29.5.2002)