Ob beim Rauchverbot oder bei Identitätsdebatten: Philosoph Robert Pfaller hinterfragt vermeintliche Gewissheiten.
Foto: Peter Rigaud

Er ist einer der streitbarsten Philosophen des Landes: Jetzt hat Robert Pfaller einen langen Essay über die Scham vorgelegt, der sowohl eine philosophische Analyse als auch ein Sittenbild unserer Zeit ist. Das im Fischer-Verlag erschienene Buch, Zwei Enthüllungen über die Scham, lässt sich als Abrechnung mit der Cancel-Culture verstehen. Die Videoversion dieses StandART-Gesprächs finden Sie hier.

STANDARD: Wir empfinden Scham für unsere Körper, haben Flug- oder Konsumscham. Warum ist die Scham zu einem zentralen Begriff unserer Gesellschaft geworden?

Pfaller: Wir stehen stärker unter Beobachtung als früher, auch in unseren Kaufentscheidungen. Dazu kommt eine massive soziale Angst, geschürt durch soziale Medien. Menschen haben zunehmend Sorge, geächtet oder geshitstormt zu werden. Durch das Prekärwerden vieler beruflicher Situationen, durch Globalisierung oder Automatisierung, sind massive Abbaubewegungen zu beobachten. Menschen kommen sich überflüssig vor. Das ist eine mächtige Schamursache.

STANDARD: Die Aussage "Schäm dich" ist zu einer Kampfansage geworden?

Pfaller: Das ist etwas Neues. Hier gibt es eine Scham, die mit Stolz formuliert wird. Die Scham ist das geworden, was man in der Soziologie ein Distinktionsgut nennt, vergleichbar einer teuren Handtasche. Man ist stolz, Scham für den anderen empfinden zu können. Dadurch deklariert man sich als etwas Besseres, Feineres. Und man versucht, den anderen mundtot zu machen. Das ist eine neue Art der Auseinandersetzung innerhalb der Linken: Das Charakteristische daran ist, dass man sich die Argumentation erspart. Man zeiht jemanden der Peinlichkeit und muss sich mit dessen Argumenten nicht mehr auseinandersetzen. In den 1970er-Jahren gab es in der Linken noch die Haltung, wenn wir glauben, dass wir recht haben, sind wir auch verpflichtet, mit den anderen zu diskutieren.

STANDARD: Warum sind es gerade Identitätsdebatten oder Diskussionen über Sexismus und Rassismus, wo besonders oft gefordert wird, dass der Gegner zu schweigen habe?

Pfaller: Für mich ist das ein klassischer postmoderner Verteilungskampf: Die Frage ist: Dürfen Angehörige einer bestimmten minoritären Gruppe ein exklusives Recht zu sprechen beanspruchen, und dürfen sie es anderen absprechen? Etwa in der Frage der Übersetzung der Gedichte von Amanda Gorman. Hier geht es um eine Minderheitenpolitik, die interessanterweise immer nur von den Wortführern dieser Minderheitenpolitik vertreten wird. Es werden im Namen einer Minderheit Privilegien für sich selbst eingefordert, die aber in Wahrheit die Gleichberechtigung und die Emanzipation dieser Minderheit behindern. In der freien Gesellschaft dürfen alle über alles sprechen und nicht nur jede Gruppe über das angeblich ihre.

STANDARD: In der Vergangenheit durften nur bestimmte privilegierte Gruppen sprechen, lange waren Frauen vom Diskurs ausgeschlossen, Minderheiten werden bis heute kaum gehört. Ist es nicht wichtig, ihnen eine Stimme zu geben?

Pfaller: Nach wie vor sind es akademische Eliten, die sprechen. Was sich geändert hat, ist, dass jetzt auch Frauen oder Menschen anderer Hautfarbe zu diesen Eliten gehören. Identitätspolitik kämpft ausschließlich um diese geänderte Zugehörigkeit. Sie kämpft aber nicht dagegen, dass es überhaupt Eliten – und zwar immer schmalere Eliten – gibt. Die Cancel-Culture ist ein Sabotageakt an jeglicher emanzipatorischen Politik. In den Nachkriegsjahren war durch eine bestimmte ökonomische Politik eine zunehmende Gleichheit in den reichen, kapitalistischen Gesellschaften entstanden. Seit dem Ende der 1970er-Jahre, durch Politiker wie Reagan oder Thatcher, kommt es wieder zu einer zunehmenden Ungleichheit in der Gesellschaft. Jeder Versuch, gegen diese Entwicklung anzukämpfen, wird vorzugsweise mit Cancel-Argumenten sabotiert. Der linke Politiker etwa, der gegen Ungleichheit kämpft, wird mit dem Argument mundtot gemacht, dass er ein Mann ist.

STANDARD: Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit sind die Diskussion über die Liedtexte des Rappers Yung Hurn und die Forderung, dass er nicht bei der Eröffnung der Festwochen auftrete. Ist es nicht wichtig, dass über Sexismus gesprochen wird? Am Ende trat er dann doch auf.

Pfaller: Den Künstler nicht auftreten zu lassen scheint mir kein Gewinn für die Debatte und keine Form des Sprechens über Sexismus zu sein. Als die iranischen Geistlichen 1988 das Todesurteil gegen Salman Rushdie wegen seines Buches Satanische Verse aussprachen, wurde dies von den Theologen der Kairoer Azhar-Moschee kritisiert. Sie sagten: Ein Buch muss man mit einem Buch bekämpfen.

STANDARD: Es wäre besser gewesen, die hochproblematischen Texte einfach zu ignorieren?

Pfaller: Wenn Yung Hurn blöd singt, kann man ja auch blöd dagegen singen. Und außerdem: Wenn wir bei Rap oder Hip-Hop empfindlich sein wollen, dann müssen wir wohl die gesamte Musikgattung verbieten.

STANDARD: Sie sagen, wir haben es verlernt, über Peinlichkeiten anderer hinwegzusehen, und behaupten, das habe mit dem Verlust von Stolz und Ehre zu tun. Was meinen Sie damit?

Pfaller: Zur Scham gehört nicht nur, dass man sich keine Blöße geben soll. Sie fordert auch, dass man über etwaige Blößen anderer hinwegsehen muss. Das ist eine Ehrensache. Insofern begründet die Scham eine gewisse Solidarität. Diese solidarische Seite der Scham sehe ich gegenwärtig verschwinden. Ein weiteres Symptom dieses Ehrverlusts in unserer Kultur sehe ich darin, dass Menschen sehr gereizt auf Ideale reagieren. Der große Architekt, die große Schriftstellerin: Das sind Figuren, die Hass und Ranküne auf sich ziehen. Menschen, die etwas Außerordentliches geleistet haben, erscheinen nicht mehr als Verbündete oder Förderer meiner eigenen Leistungsfähigkeit. Wir unterstellen ihnen, dass sie nur etwas Großes geleistet haben, weil sie Kleinere oder Schwächere bestohlen haben. Wir wollen Adolf Loos Pädophilie nachweisen, wir sind daran interessiert, Erwin Schrödinger Parthenophilie zu unterstellen. Wir glauben, Größe geht immer auf Kosten von Kleinen und Schwachen. Wir sehen uns nicht mehr als das, was wir werden können. Ein typisches Symptom einer Abstiegsgesellschaft.

STANDARD: Das Große wurde oft strategisch eingesetzt, um andere kleinzuhalten, Hierarchien zu verfestigen, Ungleichheit zu befördern. Ist Skepsis gegenüber dem Außergewöhnlichen nicht eine durchaus gesunde Haltung?

Pfaller: Die letzten 30 Jahre im Kunstbetrieb haben mich da Skepsis gelehrt. Der Kampf gegen Ideale kann dazu gebraucht werden, Leute, die sehr mittelmäßig sind, in Machtpositionen zu bringen. Wie bei jedem Mythos kann auch bei jenem vom Genie darauf geachtet werden, was daran wirklich wahr ist. Man sollte aber nichtsdestoweniger anerkennen, dass es Menschen gibt, die Außergewöhnliches geleistet haben. Von ihnen können wir lernen. (Stephan Hilpold, 29.5.2022)