Mit prüfendem Blick auf das spiegelglatte Meer nimmt der Kellner im auffälligen Hawaiihemd einen nassen Fetzen in die Hand und wischt den Staub von den Surfboards. Er scheint nicht daran zu glauben, dass hier in nächster Zeit mit starkem Wind und hohen Wellen zu rechnen ist. Aber auch die Gäste nicht.

Die meisten sitzen an diesem sonnigen Maitag in eleganten Outfits an der Bar des Beach Club, von dem sie einen Teil des noch jungen Design District an der Piazza Le Corbusier überblicken. Piazza, Le Corbusier, Design District? Wie kommt’s zu diesem sprachlichen und geografischen Gemenge?

Das Hotel & Spa Falkensteiner Jesolo
Foto: Falkensteiner Jesolo / Walter Luttenberger

Wir befinden uns am feinsandigen Badewannenstrand von Jesolo, wo Surfboards die meiste Zeit nur Deko an einer Bar sind und von Kellnern abgestaubt werden. Dort hat der US-amerikanische Architekt Richard Meier in den vergangenen Jahren ein kleines Stadtviertel, den sogenannten Design District, aus hellen Kuben mit luftigen Lamellen als Sonnenschutz aus dem Boden gestampft – weniger in Anlehnung an Miami als an die Formensprachen von Le Corbusier.

Eine blütenweiße, förmlich schwebende Hotelhülle für die Falkensteiner-Gruppe, die innen höchst minimalistisch vom Südtiroler Matteo Thun ausgestattet wurde, gehört auch dazu. Durch und durch kühler, lässiger Style, der sich im Spa mit hawaiianisch inspirierten Behandlungen ebenso fortsetzt wie in den Fitnessstudios und den servicierten Appartements. In jedem Fall ein starker Kontrast zu den außen pastelligen und innen zuckerlfarbigen Betonbettenburgen entlang der Lidos.

Feuchtfröhliche Pause

60 Kilometer weiter nördlich wird in der Prosecco-Bar Privée in der Viale Centrale in Lignano unterdessen viel Bier verkauft. Rund ein Dutzend Sorten Sprudel aus der Region Venetien gibt es hier glasweise zu verkosten. Doch das scheint die drei jungen Steirer auf der Terrasse ohne Meerblick nicht weiter zu beeindrucken. Sie sind schon etliche Tage vor Pfingsten angereist, um einem US-Brauchtum in Oberitalien zu huldigen: Spring Break.

Die feuchtfröhliche Pause des Studienbetriebs in den USA animiert nun auch immer mehr junge Steirer und Kärntner dazu, zur Abwechslung mal in Lignano zu viel zu trinken. Nach der dritten Flasche Villacher Bier erhebt sich der motivierteste Bierbauch unter den Steirern von seinem Hocker.

Er tritt vor den Tresen der stylishen Bar mit dezenter Loungemusik und fordert laut lallend: "Musica italiana! Habts ihr kan Eros Ramazzotti?" So viel Sachkenntnis von den Finessen der regionalen Popkultur hätte sich dort einfach niemand erwartet. Der Proseccobarkeeper bleibt daher bei seiner ursprünglichen Playlist.

Ein zweiter Blick

Der knapp vor Pfingsten noch verwaiste Strand von Lignano.
Foto: Sascha Aumüller

Zwei Szenen, eine Frage: Ist die Obere Adria dazu verdammt, für immer ohne das sprichwörtliche italienische Lebensgefühl auszukommen? 100 Jahre nach Errichtung der ersten Seeterrasse in Lignano und dem damit einsetzenden Massentourismus scheint es immer noch zwei Sorten von Italien-Urlaubern zu geben: Die einen fahren auf Urlaub zu all den anderen Österreichern und Deutschen nach Lignano, Bibione oder Jesolo; die anderen überallhin in Italien, aber auf keinen Fall an die Obere Adria.

Dass sich dieses Schema gerade ein wenig aufweicht, dafür spricht aktuell einiges – und die Bewegung hat auch einige Fürsprecher. Etwa Stefano Baldo, neuerdings begeisterter Animateur für einen überraschenden zweiten Blick auf diese Gegend.

Stefano hat seinen Job als Schuhverkäufer an den Nagel gehängt und sich stattdessen ein Boot für Ausflüge gekauft. Seine Familie betrieb in Lignano in dritter Generation ein Schuhgeschäft, doch irgendwann wollte er mehr sehen als nur die Fußgängerzone.

Mit seinem Pontonboot, wie man es aus den Everglades in (schon wieder!) Florida kennt, erkundet er seither die seichte Lagune hinter Lignano und nimmt zahlende Kundschaft mit. Durch den geringen Tiefgang des Boots kommt er fast überall hin, mit Gästen zu Anfang der Touren am liebsten nach Marano.

Fischerdorf geblieben

Der kleine Ort ist zur großen Verwunderung all jener, die gerade noch die Skyline vor Lignano und die blasse kilometerlange Betonpromenade vor Augen hatten, ein Fischerdorf geblieben. Thunfisch, wie er nach dem Fang in den heute leeren Hallen hinter dem Hafen zerteilt wurde, gibt es so weit nördlich zwar seit den 1980er-Jahren nicht mehr.

Aber Venusmuscheln fischen die Boote mit ihren seltsamen Rechen am Bug angeblich noch jede Menge aus dem Wasser. Die Einheimischen dieses Ortes, der zwar zum Friaul gehört, in dem aber seit Jahrhunderten Venezianisch gesprochen wird, sagen über den Ort mit seinen hübschen Kanälen: Hätte es Venedig nicht gegeben, wäre Marano an dessen Stelle getreten. Das mag eine maßlose Übertreibung sein, doch der Ort hat tatsächlich eine wichtige regionale Bedeutung.

Die Halbinsel Lignano ist bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts als Badestrand genutzt worden. Damals kam man aber nur von Marano aus mit dem Boot durch einen dichten Schilfgürtel hin. Auch die erste Badeanstalt aus Holz und das erste Hotel in Lignano wurden beide ab 1903 von Marano aus auf der Halbinsel errichtet. Der Fischerort spielte bei der Erschließung der ersten Badeinfrastruktur also eine große Rolle.

Schicksal der Fischer

Das Schicksal der Fischer, ihre Geschichte und ihre Lebensart faszinieren Stefano Baldo von jeher. Sie nutzen mit der Lagune einen Arbeitsplatz, der de facto von Venedig bis nach Triest reicht und über unzählige Wasserwege zugänglich ist. Boote können zwischen den beiden Städten pendeln, ohne das offene Meer nutzen zu müssen.

Es ist ein riesiges Gebiet, das auch das Vorhandensein von Rastplätzen notwendig macht. Man findet diese in Form von reetgedeckten Hütten, den Casoni, auf vielen kleinen Inseln. Dort übernachteten die Fischer früher, wenn ihnen der Rückweg vom offenen Meer zu beschwerlich war oder wenn der Wind im Winter zu heftig blies.

Bis heute dürfen die Hütten nur innerhalb der Fischerfamilien weitergegeben werden. Stefano hat mit einem befreundeten Fischer eine restauriert, wofür extra stabiles Schilf vom Balaton in Ungarn herangeschafft werden musste.

Weine und Netze am Brackwasser

Die Hausboote des Marina Azzurra Resort in Lignano.
Foto: Sascha Aumüller

Mit Stefano kann man locker einen ganzen Tag in der Lagune verbringen und sich anschauen, wie bei Fausto Ghenda seit 200 Jahren wunderbarer Wein mitten im Salzwasser gedeiht; oder wie Daniele Ciprian mit einem riesigen über dem Fluss Stella gespannten Netz im Brackwasser fischt und den Fang sofort frisch frittiert. Doch vielleicht möchte man auch in Lignano mit eigenen Augen sehen, was immer mehr Einheimische über ihre Region behaupten: Die Badeorte an der Adria und ihr Hinterland rücken wieder näher zusammen. Was sie damit meinen, lässt sich etwa in der Flussmündung des Tagliamento nachvollziehen.

Der fast 180 Kilometer lange smaragdfarbene Wasserweg gilt als der letzte Wildfluss der Alpen und durchquert einen Großteil des Friaul. Dennoch ließ man ihn in Lignano an seiner Mündung lange Zeit quasi links liegen und nutzte nichts von seinem Potenzial. Heute führt hier ein wunderbarer Radweg entlang und verbindet das Meer mit dem Hinterland. Außerdem liegen im Fluss selbst, in einem alten Hafenbecken daneben und in der Wiese am Ufer seit kurzem fast 90 Hausboote.

Freier Mündungsbereich

Handwerker aus Udine haben die zweistöckigen Boote, die wie Ferienappartements funktionieren, so gestaltet, dass sie in der Landschaft minimal stören. Zum einen sind sie wie die Fischerhütten in der Lagune mit Reet bewehrt, zum anderen können sie tatsächlich bewegt werden.

Das Abtransportieren der Boote vom Fluss ins Hafenbecken wird jedes Jahr zweimal nötig, da sich das Marina Azzurra Resort dazu verpflichtet hat. Dem Betreiber der Anlage gehört der Flussabschnitt nicht, und die Stadt Lignano verlangt, den Mündungsbereich des Tagliamento im Winter frei zu halten. Gäste finden hier also immer im Sommerhalbjahr eine gelungene Anbindung ans Hinterland vor.

Die ist übrigens auch im Design District von Jesolo Thema. Was im Hotel alles an Spezialitäten auf den Tisch kommt, holen sich die Köche fast ausschließlich von Produzenten und Märkten im Hinterland. Eine neue Generation von Urlaubern ist an der Oberen Adria in Jesolo also genauso wenig vom Rest Italiens abgeschnitten wie in Lignano. Vorausgesetzt natürlich, man begeistert sich nicht nur für Spring Break und Villacher Bier. (Sascha Aumüller, RONDO exklusiv, 10.6.2022)