Laut dem österreichischen Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), der am Freitag mit Wladimir Putin telefonierte, ist dieser nicht abgeneigt, Exportrouten aus der Ukraine über das Schwarze Meer zu öffnen: Bisher hört es sich jedoch eher so an, als ob der russische Präsident als Bedingung dafür die Aufhebung von Sanktionen forderte. Es ist eine verzweifelte Situation. Wertvolle Lebensmittel drohen in der Ukraine zu verrotten, weil sie nicht exportiert werden können. Und allmählich dringt ins internationale Bewusstsein vor, dass die Folgen alle treffen werden.

Die mit Totenköpfen anstelle von Körnern bestückten Weizenähren auf dem Economist-Cover sind eine grausame Allegorie: Den von ukrainischen Getreideexporten abhängigen Ländern – viele davon rund ums Mittelmeer – drohen Hunger, Kollaps, Revolten; von ihnen könnten Flüchtlingsbewegungen bisher ungeahnten Ausmaßes ausgehen.

Und dennoch hat man den Eindruck, dass die politischen Führungen gerade jener Länder, in denen es nicht um Teuerung und Lebensstandard-Einbußen gehen könnte, sondern um das Leben selbst, seltsam passiv bleiben. Was den Ukraine-Krieg angeht, bleiben sie sozusagen auf dem Zaun sitzen. Sie zeigen sich zwar entsetzt von der Gewalt – und vermeiden gleichzeitig, mit dem Finger auf Russland zu zeigen.

Politisches Vakuum

Viele glauben, bei der künftigen Sicherheitsarchitektur ihrer Region – sei es Nordafrika, sei es der Nahe und Mittlere Osten – werde Russland eine mindestens ebenso große, wenn nicht wichtigere Rolle spielen als die USA. Washington ist auf dem Rückzug, nichts bekräftigt das deutlicher als die Aufgabe Afghanistans. Das politische Vakuum versucht vielerorts, mit wechselndem Erfolg, Russland zu füllen, das wirtschaftliche wird von China besetzt.

Der EU ist es nicht gelungen, sich von den USA zu emanzipieren, Europa wird unter "der Westen" subsumiert. Ihm wird pauschal vorgeworfen, bei der Beurteilung seiner eigenen Gegenwart und Vergangenheit und jener aller anderen – aktuell Russlands – einen doppelten Standard anzuwenden: als hätte es keine ohne Uno-Mandat von den USA geführte Irak-Invasion von 2003 oder die britische und französische Kolonialgeschichte gegeben.

Indem westliche Politiker den Ukraine-Krieg zu einem der Werte und Systeme erklärt haben, haben sie die "Enthaltung" dieser Staaten noch gefördert. Die Rolle des moralisch Überlegenen nimmt man uns nicht ab. Dass wir die Ukraine unterstützen, weil wir dort uns und unseren Lebensstil verteidigen, schließt viele andere Staaten automatisch aus: Was haben sie dann damit zu schaffen? Warum sollten sie Position beziehen?

Kontraproduktive Arroganz

Dabei wäre die Antwort einfach: weil der russische Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig war und weil die internationalen Folgen verheerend sein werden, gerade für viele der Zaungäste. Wenn sie Russland schon nicht offen kritisieren wollen, so würde ihr akkumulierter Druck, dass dieser Wahnsinn aufhören muss, auch in Moskau Eindruck hinterlassen. Russland hat Interesse daran, dass sie nicht die Seiten wechseln.

Deshalb ist die Arroganz des westlichen Diskurses klar kontraproduktiv. Sie trägt dazu bei, dass die Erzählweise, Russland wehre sich gegen den imperialistischen Westen, auch dann noch hält, wenn die ersten Menschen verhungern und die ersten Zaunsitzer-Regierungen im Tumult untergehen. (Gudrun Harrer, 29.5.2022)