Bilder, die niemand sehen will: Kinder und Erwachsene, die beim Champions League-Finale in Paris vor dem Stadion von Tränengas getroffen wurden.

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Liverpool-Fan Tore Hansen (Mitte), mit seiner Begleitung, ist noch immer schockiert.

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Tränengas gegen Fußballfans, weinende Kinder: Das Einlass´chaos beim Stade de France vor dem Champions-League-Finale am Samstag zwischen Liverpool und Real Madrid (0:1) hat für verstörende Szenen gesorgt. Die Bilanz der Polizei: 238 Verletzte und 105 Festnahmen. Tore Hansen, Chef des offiziellen Liverpool-Fanklubs aus Norwegen, hat das Fiasko hautnah miterlebt. Der 54-Jährige sieht ein Totalversagen beim Veranstalter.

STANDARD: Wie haben Sie die Chaosnacht von Paris erlebt?

Tore Hansen: Es war absolut skandalös. Friedliche Fußballfans, die Tickets für das Finale hatten, mussten stundenlang vor dem Stadion teils dicht gedrängt ausharren, ohne zu wissen, warum. Es gab keine Informationen seitens des Veranstalters rund um das Stadion. Informationen bekamen wir nur über Twitter. Es war gefährlich, unverantwortlich. Dass so etwas in einer großen Veranstaltungsstadt wie Paris im Jahr 2022 passiert, hätte ich nicht für möglich gehalten.

STANDARD: Handyaufnahmen auf Twitter zeigen Polizisten, die Tränengas gegen Familien und Kinder einsetzen, Menschen, die über Zäune klettern, und Pariser Jugendliche, die Fußballfans bedrängen.

Hansen: Die Organisatoren haben völlig die Kontrolle verloren. In unserer Fangruppe hatten wir weinende Kinder, die Pfefferspray in die Augen bekommen hatten. Ich habe eine Gruppe behinderter Menschen gesehen, Menschen in Rollstühlen, die von der französischen Polizei mit Tränengas attackiert wurden. Mein Zimmerkollege hat noch immer Nachwirkungen in den Augen. Das aggressive Vorgehen der französischen Polizei ging auch nach dem Match weiter. Die wollten, dass die Leute so schnell wie möglich verschwinden. Dabei gab es gar keine Fanausschreitungen.

STANDARD: Sie haben es rechtzeitig zum verspäteten Anpfiff geschafft. Wie haben sie den Weg ins Stadion erlebt?

Hansen: Wir waren drei Stunden vor Spielbeginn bei Gate Z. Übrigens waren die meisten Zuschauer bereits Stunden vor dem Anpfiff vor dem Stadion. Dass der Veranstalter behauptet, das Chaos sei wegen verspätet angereister Fans entstanden, entspricht nicht der Wahrheit. Nachdem bei Gate Z zwei Stunden lang nichts weitergegangen ist, sind wir zu Gate C marschiert. Dort haben wir noch einmal eine Stunde gewartet, es dürfte Probleme mit der digitalen Ticketkontrolle gegeben haben. Ein Uefa-Offizieller kam bei uns vorbei, wir fragten ihn, was los ist. Er wusste nichts.

STANDARD: Wie sind Sie letztendlich hineingekommen?

Hansen: Am Ende haben uns die Sicherheitskräfte unter der Absperrung durch ins Stadion gelassen, ohne unsere Tickets zu scannen. Das darf eigentlich niemals passieren. Die Veranstalter hatten keinen Überblick mehr, wer ins Stadion gelangte. Ich habe Menschen gesehen, die sich ohne Tickets hineingeschlichen haben.

STANDARD: Wie ist es Ihrer Meinung nach zu dem Chaos gekommen?

Hansen: Ich denke, mehrere Faktoren haben eine Rolle gespielt: nadelöhrartige Zugänge rund um das Stadion, eine überforderte Organisation, Polizisten, die falsch reagierten. Aber natürlich auch Fans, die ohne Tickets anreisten, und gewaltbereite männliche Jugendliche aus dem Pariser Prekariat. Spanische Fans berichteten, dass viele Handys gestohlen wurden, um an digital abgespeicherte Tickets zu gelangen. Dass Fans ohne Tickets anreisen, ist aber bei jedem Europacup-Finale der Fall, darauf müssen die Veranstalter vorbereitet sein. Es ist ein Riesenglück, dass nichts Schlimmeres passiert ist.

STANDARD: Wären Sie Uefa-Boss Aleksander Ceferin, wie würden Sie als Veranstalter auf dieses Fiasko reagieren?

Hansen: Eine Entschuldigung würde für mich nicht ausreichen. Aber es wird natürlich nichts passieren, so wie immer. Die Politik wird die Polizei und die Organisatoren loben, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Man wird geloben, es in der Zukunft besser zu machen. Und morgen geht man wieder zur Tagesordnung über. (Florian Vetter, 29.5.2022)