Der Autor Necati Öziri ficht für ein Inklusionsmodell: Wer für kanonische Werke plädiert, tradiert auch die alten Ungerechtigkeiten.

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Tschüss, Sophokles, baba, Schiller, ciao, Shakespeare! Die Autoren von Antigone, Die Räuber und König Lear heißen heute Thomas Köck, Bérénice Hebenstreit und Thomas Melle. Auf den Spielplänen prangt kaum ein Klassiker, dem nicht eine eigene Bearbeitung oder eine neue literarische Überschreibung zuteilgeworden wäre, um überkommene Werte vergangener Zeiten auszubügeln. Seit nicht mehr nur eine kleine, homogene Gruppe gesellschaftspolitisch bestimmt, was Sache ist, sondern viele Stimmen gehört werden wollen, hat auch am Theater die Kanonkritik wieder Fahrt aufgenommen.

Auch Opernstoffe werden abgeklopft. Für den Ring des Nibelungen tat dies jüngst Necati Öziri. Der deutsche Dramaturg und Schriftsteller – er las im Vorjahr beim Bachmannpreis in Klagenfurt (zwei Preise) – spürt rassistische und sexistische Muster in deutschsprachigen Klassikern auf und krempelt sie um. Noch mehr: Er neutralisiert sie.

Öziri, dessen Ring in der Regie des gefeierten Regisseurs Christopher Rüping ab 1. Juni vom Produktionsort Zürich zu den Wiener Festwochen übersiedelt, geht es nicht um eine Neubearbeitung. Er nimmt radikalere Schritt vor. Seine Texte bezeichnet er als "Widerspruch" oder "Korrektur". Das heißt, kein Ton mehr von Richard Wagner, kein Piep von Wotan oder Siegfried.

Öziris Gegendichtung richtet den Blick gänzlich neu aus und rollt Stoffe von der Kehrseite auf. Dabei stellt er sich jeweils Fragen wie: Wer kommt in den bestehenden Texten nicht zu Wort, wer wird repräsentiert und was ausgelassen? Und welches Identifikationsangebot bietet der Stoff denn überhaupt? Denn eine unwidersprochene Kanonpflege produziere ständig auch elitäre Ausschlüsse, so Öziri. Und das exemplifiziert er an seiner eigenen Familie. Sein im Stück namentlich genannter Onkel, ein Fabrikarbeiter in einem großen Autoreifenkonzern, hatte beispielsweise nie die Chance auf die bildungsbürgerliche deutsche Kanonrezeption und ist wie viele andere auch mit der Inszenierungsgenese dieses Nonplusultra-Klassikers nicht vertraut, würde aber vielleicht auch gern einmal in die Oper gehen.

Weg mit Stereotypen

Die Lösung sei, so Öziri bei einem Vortrag jüngst im Rahmen des Berliner Theatertreffens, aus alten Stoffen gänzlich neue Stücke zu entwerfen. Er hat dies 2019 bereits mit Kleists Die Verlobung in St. Domingo (1811) gemacht, einer mit rassistischen und kolonialistischen Mustern einhergehenden Novelle. Öziri kübelt die einer bestimmten Entstehungszeit zuzurechnenden Stereotype, die wir oft seit Jahrhunderten auf den Bühnen weiter abbilden, während die Welt da draußen längst andere Ansprüche formuliert hat.

Der Autor findet sogar, es brauche keinen Kanon mehr, wie er auf STANDARD-Anfrage sagt, weder einen bestehenden noch einen neuen. Denn der Kanon beflügle ohnehin nur "eine bestimmte Vorstellung von Leitkultur, mit all ihren Ausschlüssen und Ungerechtigkeiten". Außerdem: "Der Kanon will festlegen, was als 'Hochkultur' gilt und was nicht, der Kanon will bestimmen, welches Wissen man mitbringen muss, um Theater genießen zu können."

Und schließlich festige der Kanon auch eine bestimmte Regietheaterästhetik, deren Aufgabe nicht so sehr darin bestehe, "etwas Neues zu sagen, sondern Bekanntes auf eine neue Art und Weise".

Angesichts des stetig und durch die Pandemie beschleunigt wegdriftenden Abo-Publikums ist das Theater jedenfalls gefordert, sich neuen Erzählungen und damit auch neuen Publikumsgruppen zu öffnen. Ob das mit neuen Erzählungen klappen könnte, sei dahingestellt.

Nur kein Spiegel

Das immer wieder nur sachte Verschieben von Interpretationsansätzen in den kanonisierten Dramen sei, so Öziri, einfach nicht mehr ausreichend. Auch die Rechtfertigung der Weitererzählung in althergebrachten Mustern als "Spiegelung" der Verhältnisse und damit kritische Betrachtung lässt der Autor nicht gelten. Denn eine Spiegelung gehe nicht zwangsläufig mit einer Reflexion einher, sie könne, so Öziri, genauso gut stabilisierend wirken, also eine Verfestigung geltender Strukturen fördern.

Die Stoffe von Öziris Korrektur-Dramen sollten, auch im Fall des Rings des Nibelungen, ohne Kenntnis des Originaltextes verständlich sein. Denn, so Öziri: "Wer behauptet, Wagner-Original-Genie-mäßig etwas noch nie Dagewesenes schreiben zu können, lügt. Wir alle schreiben immer weiter, was es schon einmal gab." (Margarete Affenzeller, 30.5.2022)