Bruno Bonfà zeigt die Verwüstungen, die die Kühe in seinem Betrieb angerichtet haben: zertrampelte Bergamotte-Setzlinge, heruntergerissene dicke Äste von hundertjährigen Olivenbäumen, zerstörte Zäune. "Das war vor zehn Tagen", berichtet der 68-Jährige. "Die Kühe kommen erst nach Einbruch der Dunkelheit und verschwinden wieder im Morgengrauen." Es gebe keinen Zaun, der vor ihnen sicher sei – die Bullen wiegen zum Teil deutlich mehr als eine Tonne und trampeln alles nieder. Die Schäden in seinen Kulturen liegen längst in Millionenhöhe.

Bonfàs 70 Hektar großer Biobetrieb befindet sich auf einem Ausläufer des Aspromonte-Gebirges, im Gebiet rund um die Kleinstadt Locri im tiefsten Süden Kalabriens. Direkt unterhalb den Bergamotte- und Olivenhainen liegt das breite Bett des Flusses La Verde, im Süden glitzert in etwa drei Kilometer Entfernung das Ionische Meer.

Im Krieg gegen die Kuh

Doch die Idylle trügt. Bonfà befindet sich, wie er selbst sagt, "im Krieg", und zwar seit dem 3. Oktober 1991 – dem Tag, an dem die Killer der Clans seinen Vater auf seinem eigenen Betrieb erschossen haben. Er sei wohl zufällig Zeuge einer Entführung geworden und habe deshalb sterben müssen. Der Mord an Bonfàs Vater ist nie aufgeklärt worden.

Kühe auf der Straße. Die tonnenschweren Tiere verursachen oft Unfälle.
Foto: Straub

1991 war auch, auf der tyrrhenischen Seite des Aspromonte, zugleich das Jahr einer "Pax mafiosa", eines Mafia-Friedens gewesen: Das oberste Führungsgremium der ’Ndrangheta hatte das Ende einer jahrelangen blutigen Fehde zwischen zwei Familien angeordnet, die im Lauf der Jahre tausende Tote gefordert hatte. "Die Fehde stand am Anfang der Geschichte um die heiligen Kühe der ’Ndrangheta", betont der Anwalt Domenico Antico aus Cittanova. Denn der Mafia-Krieg habe dazu geführt, dass die Hauskühe, die den Clans gehört hatten, plötzlich keine Besitzer mehr hatten, weil diese entweder ermordet oder verhaftet worden waren.

Mafia-Kühe dürfen alles

Die herrenlosen Tiere brachen aus ihren Ställen aus, verwilderten – und vermehrten sich unkontrolliert. Und sie drangen in die Plantagen und Felder der ansässigen Bauern ein. Beinahe täglich kam es zu teilweise schweren Unfällen mit Kühen, die in der Dunkelheit unvermittelt auf die Straße rannten. Zweimal brachten die Tiere sogar einen Zug zum Entgleisen. Die Tiere drangen bis in die Stadtzentren vor, spazierten durch die Gassen, tranken aus den Brunnen. Eine Landplage.

Dennoch wagte es kaum jemand, die Tiere zu vertreiben oder sie gar zu töten – denn nach wie vor betrachteten sich die Clans als deren rechtmäßige Eigentümer. Die Kühe galten als unberührbar – und so wurden sie bald allgemein als die heiligen Kühe der ’Ndrangheta bekannt. Wie gefährlich es war, sich mit den Tieren anzulegen, war spätestens seit dem 8. September 2005 klar, als der pensionierte Augenoptiker Fortunato La Rosa mit drei Schüssen getötet wurde. Er hatte wegen der Kühe, die mehrfach seinen Garten verwüstet hatten, Anzeige erstattet. Die Botschaft laute: Unsere Kühe dürfen alles, denn hier kommandieren wir.

Der "prefetto" kam doch

Der Staat hat die Menschen mit dem Problem alleingelassen. Bis die Situation im Jahr 2017 unhaltbar wurde: "Es war ein Dürrejahr, die Tiere bewegten sich auf ihrer Suche nach Wasser mehr als üblich, drangen noch häufiger in die historischen Zentren vor – es musste etwas geschehen", erklärt Anwalt Antico. Er, sein Bekannter Peppe Morabito und einige weitere Einwohner gründeten in Cittanova die Bürgerinitiative "No Bull". Sie schrieben an den Polizeichef von Reggio Calabria und organisierten Kundgebungen. Schnell schlossen sich auch die Bürgermeister anderer Gemeinden der Gegend dem Protest an. Und siehe da: Im Jänner 2018 kam Reggios Polizeichef vorbei. Der "prefetto" und seine Truppe hörten sich die Beschwerden der Bevölkerung an.

Die Scharfschützen der Anti-Kuh-Einheiten auf Patrouille.
Foto: No Bull

Seither machen drei Mannschaften mit polizeilichen Scharfschützen Jagd auf die heiligen Kühe. Inzwischen sind in vier Jahren rund um Cittanova über 400 Tiere erlegt worden. Natürlich tue ihm das weh, sagt Morabito. Aber es handle sich eben auch um ein Gesundheitsproblem: Die verwilderten Kühe würden nie tierärztlich untersucht und verbreiteten Krankheiten. Die Aktion wird deshalb auch vom Gesundheitsministerium in Rom befürwortet. Jetzt befänden sich noch fünfzig bis sechzig "vacche sacre" auf dem Gemeindegebiet. Die Abschüsse sind aber nicht einfach, das Gelände teils ziemlich schwierig.

Doch auch wenn die Jagd noch nicht beendet ist: Das Engagement des "No Bull"-Komitees und der staatlichen Taskforce wird bereits als großer Erfolg gewertet. "Mit unserer Initiative haben wir einen Beitrag gegen die verbreitete Resignation in unserer Region geleistet. Und wir haben den Mafia-Familien demonstriert, dass das Territorium nicht ihnen gehört, sondern den Bürgerinnen und Bürgern", sagt Morabito. Der Kampf gegen die Mafia sei auch ein sozialer und kultureller.

Erfolg für "No Bull"

Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger in dieser Frage hat in den letzten Jahren – parallel zur intensivierten staatlichen Repression – in der Tat immer mehr an Kraft gewonnen. Als besonders wirksames Mittel gegen die Mafia hat sich – nicht nur in Kalabrien – die Beschlagnahmung von Vermögenswerten und Ländereien durch den Staat erwiesen: Auf früheren Mafia-Landgütern bestellt nun eine junge Generation von Kalabrierinnen und Kalabriern die Äcker, Orangenplantagen und Olivenhaine und zeigt damit, dass es auch anders geht.

Biobauer Bruno Bonfà vor einigen seiner Bergamottebäume: Die Zitrusfrucht, die zur Parfümherstellung und zum Brauen des himmlischen Chinotto verwendet wird, gilt als das "grüne Gold Kalabriens".
Foto: Straub

Immer mehr Priester weigern sich, Mafia-Bosse als Taufpaten für neugeborene Kinder zu akzeptieren. Ladenbesitzer und Gewerbetreibende lehnen Schutzgeldzahlungen ab und erstatten öffentlich Anzeige – das hatten noch vor wenigen Jahren nur die wenigsten gewagt. In Reggio Calabria hat die junge politische Gruppierung La Strada, die gegen die immer noch verbreitete Nähe von Politik und Mafia ankämpft, bei den letzten Kommunalwahlen einen Überraschungserfolg erzielt.

Die 'Ndrangheta sitzt am PC

Es habe sich vieles zum Besseren gewendet, betont Anwalt Antico. Die heutige ’Ndrangheta sitzt am Computer und tätigt Finanzgeschäfte, sie beschäftigt sich nicht mit Kühen. Natürlich gebe es sie immer noch, auch in Cittanova. "Man kennt die Familien, viele haben auch noch Angst vor ihnen." Aber geschäftlich interessiere sie Kalabrien kaum – "ihre milliardenschweren Geschäfte machen sie längst nicht mehr hier".

Für Bruno Bonfà ist dies freilich ein schwacher Trost: Für ihn ist die Bedrohung durch die Clans so aktuell wie eh und je. Weil er sich gegen die ’Ndrangheta wehrt, weil er die Wahrheit über den Tod seines Vaters erfahren will und seinen Kampf öffentlich führt, ist er bis heute Opfer von Sabotageakten und Einschüchterungen geblieben. Ans Aufgeben denkt er trotzdem nicht: "Es wäre eine Kapitulation vor den Clans – und der Sieg derjenigen, die meinen Vater getötet haben." (Dominik Straub aus Kalabrien, 30.5.2022)