Russlands brutaler Angriff auf die Ukraine habe die Europäische Union und die Partnerstaaten zusammengeschweißt. Die Einigkeit sei so groß wie seit Jahrzehnten nicht – in der EU wie auch im transatlantischen Bündnis Nato. Seit dem Beginn von Wladimir Putins Eroberungskrieg am 24. Februar wird diese Formel bei allen Ministerräten, Erklärungen der EU-Kommission oder Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs wie ein Mantra heruntergebetet.

Ende März war US-Präsident Joe Biden extra zu einem Marathongipfel der beiden westlichen Organisationen plus der G7-Staaten angereist, um den Schulterschluss gegen Moskau auch physisch zu zeigen.

Und vor nicht ganz zwei Wochen sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock in Brüssel, sie erwarte in Sachen Embargo gegen russisches Öl gemäß einem Kommissionsvorschlag von Ende April, dass "wir in den nächsten Tagen zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen". Denn: "In diesen Zeiten stehen wir Europäerinnen und Europäer trotz aller Unterschiede so eng zusammen, wie ich das bisher noch nicht erlebt habe."

Auf dem Papier mag das auch zutreffend sein. Dennoch zeigen sich drei Monate nach Kriegsbeginn und einem Verlauf, der auf eine lange militärische Auseinandersetzung hindeutet, erste Risse in den Einschätzungen der Staaten, auch der Nato. Der EU-Sondergipfel Montag und Dienstag könnte ein erster wichtiger Test dafür sein, ob es mit der großen Einigkeit gegen Wladimir Putin wirklich so gut steht wie behauptet.

Orbáns Poker

Es ist nicht nur so, dass sich Ungarn unter Premierminister Viktor Orbán gegen das sechste EU-Sanktionspaket querlegte, obwohl ihm eine lange Übergangsfrist von fast zwei Jahren bis Inkrafttreten eines Ölembargos angeboten wurde. Plus Finanzhilfe für das von russischem Öl, Gas und russischer Kernkraftwerksausstattung besonders betroffene Land. Diplomaten zeigten sich wenig optimistisch, dass Orbán einlenkt. Er braucht auch eine nationalistische Show, um von internen Problemen wie der enormen Preissteigerung abzulenken.

Ein Kompromiss könnte sein: Man unterscheidet beim Embargo nach dem Transportweg per Schiff und in Pipelines. Aber Ungarn ist bei weitem nicht das einzige Problem im Kreis der 27 Mitgliedsstaaten. Da sie von Inflation, Schwierigkeiten bei Lieferketten, Energielieferungen wie auch drohender weltweiter Unterversorgung mit Nahrungsmitteln unterschiedlich betroffen sind, treten in der Gemeinsamkeit erste Risse auf.

Sie beziehen sich auf eine Hauptfrage, ein Dilemma: Soll man der Ukraine trotz der rasant steigenden Opferzahlen unbeschränkt Waffen liefern – Panzer, Drohnen und Haubitzen? Oder doch versuchen, mit Putin ins Gespräch zu kommen, um zu humanitären Lösungen, Gefangenenaustausch, gesicherten Getreidetransporten auf See zu kommen, zu einem Waffenstillstand?

Friedenstauben oder Kriegsfalken, das ist beim EU-Gipfel die Frage. Manche Länder wollen Russland eine klare Niederlage zufügen. Andere drängen auf ein rasches Ende der Kämpfe.
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"Falken" wie Polen oder die drei baltischen Staaten lehnen das ab. Sie unterstützen die Linie des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der Putin besiegen will und Russland eine klare Niederlage zufügen möchte.

"Schmutziger" Frieden

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hingegen ist überzeugt, dass man mit Putin wird verhandeln müssen. Österreichs Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) ist ganz auf dieser Linie, will vermitteln.

Für Aufregung sorgte der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, ganz in der Tradition von "Realpolitik": Er riet den Europäern zu einem Kompromissfrieden. Die Krim wie auch die besetzten Gebiete in der Ostukraine müssten letztlich aufgegeben werden. Und man müsse mit Russland leben.

Um diese grundsätzliche Frage wird es beim Gipfel im Hintergrund stets gehen. Das mächtige Deutschland bzw. Kanzler Olaf Scholz (SPD) zeigt sich bisher unentschieden. Er will Kiew voll unterstützen, aber auch Frieden und Verhandlungen.

Programmiert ist ein Streit in Sachen Transition in Europas Energiepolitik Richtung Nachhaltigkeit. Es geht um viel Geld, ebenso wie bei der Soforthilfe für die Ukraine in der Höhe von neun Milliarden Euro.

EU-Ratspräsident Charles Michel wird also alle Hände voll zu tun haben, "seine" 27 Staats- und Regierungschefs in Wort und Tat zur großen Einigkeit zu bringen.

Die Frage, ob bzw. welche Art von EU-Beitrittsperspektive man der Ukraine anbieten will, spielt mit. Bis Ende Juni, zum nächsten EU-Gipfel, soll die Kommission einen ersten Bewertungsbericht vorlegen. Diesbezüglich bleibt also noch Zeit. In Sachen Embargomaßnahmen, Waffenlieferungen, Getreideexporte hingegen zählt jeder Tag. (Thomas Mayer aus Brüssel, 30.5.2022)