Auch der Russe reist gern. Der Sommer steht vor der Tür, Corona ist erst einmal Geschichte, auch in Russland. Obwohl in diesem Jahr alles teurer wird, vor allem die Lebensmittel, wollen 37 Prozent aller Russen Urlaub machen, so eine aktuelle Umfrage. Reiseziele im Land selbst sind beliebt, etwa Sotschi an der Schwarzmeerküste. Doch auch die Türkei lockt. Dorthin fliegen die Russen besonders gern. In den letzten drei Jahren waren über 14 Millionen Russen am türkischen Mittelmeer.

Schwierige Reisen

Doch wie hinkommen? Der Luftverkehr in Russland ist dramatisch eingebrochen. Insgesamt elf Flughäfen in der Nähe der Kampfgebiete in der Ukraine sind gesperrt, darunter die touristisch wichtigen Airports im Schwarzmeer-Kurort Anapa und Simferopol auf der Halbinsel Krim. Und die russischen Fluggesellschaften haben ihre Flugpläne drastisch zusammengestrichen. Flüge ins EU-Ausland gibt es nicht mehr, da greift das Flugverbot. Auch viele andere Länder werden nicht mehr angeflogen. Der Moskauer Flughafen Domodedowo war 2021 die Nummer fünf in Europa. 25 Millionen Passagiere zählte man hier. Nun werden nur noch zehn Länder angeflogen, überwiegend östliche Nachbarn. Nach Recherchen der Zeitung Kommersant ging die Zahl der Flüge im April um 30 Prozent zurück. Besonders schlimm traf es Ural Airlines, die Fluggesellschaft musste 45 Prozent ihrer Starts streichen.

Am Moskauer Flughafen Domodedowo ist Stille eingekehrt. Nur noch zehn Länder werden derzeit angeflogen.
Foto: IMAGO/Mikhail Metzel

Der Grund für den dramatischen Einbruch: Von den rund 600 Flugzeugen russischer Airlines sind fast 500 von Airbus, Boeing und Embraer. Die brauchen Ersatzteile, die jetzt wegen der Sanktionen von den Herstellern nicht mehr geliefert werden. Nach Schätzungen von Experten reicht der Vorrat noch maximal drei Monate, dann ist Schluss. Viele Airlines streichen Flüge, lassen ihre Maschinen erst mal auf dem Boden.

Keine Entspannung in Sicht

"Uns allen ist klar, dass sich daran in nächster Zeit nichts ändert", sagt der Aeroflot-Flugkapitän Andrej Litwinow der Moskauer Deutschen Zeitung. Litwinow ist in Russland kein Unbekannter. Vor Jahren bekam er, startbereit in Irkutsk Richtung Moskau, einen Funkspruch vom Tower. Er solle warten, es käme noch eine wichtige Persönlichkeit. Die Türen seien bereits zu, die wichtige Persönlichkeit solle nächstes Mal pünktlich sein, antwortete der Kapitän. Sprach’s und hob ab. Ein Mitschnitt des Funkspruchs ging viral, die Aeroflot stellte sich hinter ihren Piloten.

Damals flog Litwinow noch 90 Flugstunden pro Monat, 17 bis 18 Flüge, so sagt er. Jetzt komme er nur noch auf 25 Flugstunden. Viel Freizeit, aber bitter für ihn: Das Gehalt russischer Piloten bemisst sich im Wesentlichen nach den Flugstunden. Drei Monate reichen noch die Ersatzteile, dann kommt das, was Kapitän Litwinow "Kannibalisierung" nennt. Intakte Flugzeuge werden ausgeschlachtet, dienen als Ersatzteillager. Sprich: Noch weniger Flugzeuge werden startklar sein.

Russische Airlines fliegen sicherheitshalber nur ins befreundete Ausland, wo kein Einkassieren von Leasing-Flugzeugen droht.
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Abhilfe soll der Bau neuer, russischer Flugmuster schaffen. Doch Maschinen wie etwa die neue MC-21 werden erst Mitte des Jahrzehnts zur Verfügung stehen. Hinzu kommt ein zweites Problem für die russischen Airlines: Fast alle ihrer Boeing- und Airbus-Maschinen sind über westliche Firmen geleast. In der Zwischenzeit erhielten sie eine russische Registrierung. Doch gemäß den Sanktionen müssten sie bei der Landung im Ausland beschlagnahmt werden. 78 russische Leasing-Flugzeuge wurden auf diese Weise bereits einkassiert. So fliegen russische Airlines sicherheitshalber nur ins befreundete Ausland, wo Derartiges nicht droht. Von der Türkei hätte die russische Regierung sehr gern die Zusage, dass man russische Flugzeuge nach der Landung nicht beschlagnahmen würde. Doch Ankara mag diese Zusage bislang nicht geben.

Geschäft eingestreift

Das Geschäft mit den russischen Touristen will man wohl selber machen. Die eigens gegründete Airline Southwind mit Sitz in Antalya will bereits ab Ende Mai russische Touristen ins Urlaubsgebiet bringen. Und eine zweite Fluggesellschaft sei bereits in der Zulassung durch die türkische Luftfahrtbehörde, berichtet die Nachrichtenagentur TASS. Mavigok Aviation, wirtschaftlich verbunden mit dem russischen Charterer Azur Air, wolle mit jeweils zwei Boeing 737-900 und Boeing 777 Touristen ins Land bringen.

Einige Millionen Urlauber aus Russland sollen trotz der schlechten Wirtschaftslage in der Heimat, trotz der Sanktionen ans Mittelmeer kommen. Darauf hofft die türkische Tourismuswirtschaft. Doch Ängste werden laut: Hilfe, die Russen kommen nicht! (Jo Angerer, 30.5.2022)