Vor dem russischen Konsulat in Lwiw wird gegen den Krieg, gegen Mord und Vergewaltigungen demonstriert. Mit rotbeschmierten Haushaltsgeräten werden die mutmaßlichen Massenplünderungen durch russische Soldaten beanstandet.

Foto: REUTERS/PAVLO PALAMARCHUK

Haben russische Militärangehörige systematisch Waren aus der Ukraine geplündert? Eine Datenrecherche der unabhängigen russischen Plattform "Mediazona" liefert Belege dafür, dass über Wochen en masse Pakete von der ukrainischen Grenze nach Russland versendet wurden. Die Recherche zeichnet nach, wie der Versanddienst SDEK genutzt wurde. Die Versanddaten von 13 Städten entlang der Grenze der Ukraine zu Russland und Belarus wurden ausgewertet. Überwachungsvideos liefern Anhaltspunkte, welche Waren verschickt wurden. Auffällig dabei: Die Zahl der Pakete nahm signifikant zu, wenn sich die Russen aus umkämpften Gebieten zurückzogen, wie etwa rund um Kiew. Waren es davor nur ein paar Hundert Kilo, stieg das Gewicht der Versendungen danach auf mehrere Tonnen. DER STANDARD bringt eine Übersetzung der Datenrecherche von "Mediazona".

Auffällige Pakete

Es war der Blogger Anton Motolko, der im April ein Video von russischen Soldaten in einer Filiale des Versanddienstes SDEK im belarussischen Masyr – unweit der Ukraine-Grenze – veröffentlichte. Sie brachten dort Pakete mit Ausrüstung und Gegenständen auf den Weg. Als "Mediazona" dem nachging, fiel ein weiteres Paketzentrum auf – ebenfalls wegen des Ansturms von Menschen in militärischer Uniform: Nowosybkow, Region Brjansk.

Seither ist die Liste der Städte, die "Mediazona" beobachtet, gewachsen – darauf stehen nun alle SDEK-Paketstellen an der ukrainischen Grenze. Im Zuge der Auswertung hat "Mediazona" die Entsendungen kartografiert und mehrere Dutzend Stunden Videomaterial vom SDEK-Paketzentrum in Waluiki ausgewertet.

Folgende interaktive Karte zeigt das Frachtvolumen, das in verschiedene Städte Russlands verschickt wurde:

Zur Datenerfassung

SDEK ermöglicht es seinen Kunden, Sendungen nachzuverfolgen. Auf der Website des Unternehmens wird nach Angabe der Auftragsnummer der genaue Weg von der Abholung bis zur Auslieferung angezeigt. Es handelt sich dabei um anonymisierte Informationen – SDEK macht keine Angaben zum Absender und gibt nur die Initialen des Empfängers an. Obwohl das Gewicht des Pakets auf der Website nicht angezeigt wird, ist es im Quellcode sichtbar.

Das größte Paket wog 381 Kilogramm und wurde von der Grenzstadt Rylsk in die Vororte von Jekaterinburg geschickt.

Auf der Webseite von SDEK können Sendungen nachverfolgt werden. Hier ein Paket, das in der Grenzstadt Rylsk aufgegeben wurde – mit einem Gewicht von 381 Kilogramm. Das Gewicht wird zwar nicht angegeben, man kann es aber dem Quellcode entnehmen.
Foto: Mediazona

Sobald eine Sendung im zentralen System registriert wird, weist SDEK ihr eine individuelle Nummer zu. Die Nummerierung ist fortlaufend. Das heißt: Der nächste Auftrag in der Warteschlange einer beliebigen SDEK-Filiale erhält die nächste Nummer.

Dass die Nummerierung fortlaufend ist, wird auch durch die Gesamtsumme der Paketsendungen bestätigt. Auf seiner Website gibt SDEK an, dass täglich rund 300.000 Sendungen durchführt werden. Wenn man die Nummern durchgeht und die Änderungen des Versanddatums verfolgt, kann man also die ersten und letzten Sendungen eines Tages ermitteln.

"Mediazona" hat Daten zu allen SDEK-Sendungen seit dem 21. Februar 2022 gesammelt. Der Anteil der fehlenden Sendungsnummern beträgt 1,75 Prozent. Berücksichtigt wurden nur Aufträge, die zum Zeitpunkt der Datenerhebung bereits durchgeführt wurden.

Die Suche nach verdächtiger Fracht

"Mediazona" hat 46 SDEK-Filialen in den der ukrainischen Grenze am nächsten gelegenen Orten in Belarus, Russland und Krim ausfindig gemacht. Daten zu den Lieferketten einzelner Pakete wurden aber nur dann ausgewertet, wenn mehr als zwei Großaufträge an einem Tag von diesen Grenzstellen an denselben Ort geschickt wurden. So wurde eine Liste mit 60 auffälligen Zielorten zusammengestellt. Pakete nach Moskau und St. Petersburg wurden aufgrund des riesigen Sendungsvolumens, das generell diese Städte erreicht, nicht berücksichtigt. Paketsendungen innerhalb der Grenzregionen und der Krim wurden ebenfalls von der Auswertung ausgeschlossen.

Dabei stellten sich Paketsendungen aus 13 SDEK-Grenzfilialen als verdächtig heraus: in Armjansk und Dschankoj (Krim), Pokrowskoje (Region Rostow), Bogutschar und Rossosch (Region Woronesch), Waluiki (Region Belgorod), Schelesnogorsk und Rylsk (Region Kursk), Klimowo, Klinzy, Nowosybkow und Unetscha (Region Brjansk) sowie in Masyr (Belarus).

Wenn man versucht, diese Orte den Hauptsträngen des russischen Angriffs auf die Ukraine zuzuordnen, würde Waluiki mit der Offensive auf Charkiw, Klinzy, Nowosybkow und Masyr mit Kiew-Tschernihiw, Rylsk mit Sumy, Dschankoj und Armjansk mit Cherson-Melitopol zusammenfallen.

Anhand des Durchschnittsgewichts der einzelnen Pakete kann man verdächtige von regulären Paketrouten eindeutig unterscheiden. Die folgende Grafik zeigt alle Städte, die seit Ende Februar Pakete mit einem Gesamtgewicht von mehr als einer Tonne von den untersuchten Paketzentren an der Grenze erhalten haben. Sie sind nach Gesamtgewicht sortiert. Die Hauptstadt Moskau steht wenig überraschend an erster Stelle – das durchschnittliche Gewicht der Pakete nach Moskau ist jedoch gering. Die Stadt Rubzowsk hat dagegen Pakete mit einem Gesamtgewicht von mehr als zwei Tonnen von der Grenze erhalten. Das Durchschnittsgewicht ist dort achtmal höher als in Moskau. Jurga, Tschebarkul, Miass und andere Städte stechen auf die gleiche Weise hervor, da sie ebenfalls Pakete mit vielen Tonnen Gesamtgewicht und einem hohen Durchschnittsgewicht erhalten haben.

Die Top-Absender

Am 29. März gaben die ukrainischen Behörden den Abzug russischer Truppen aus der Region Kiew bekannt. Am 7. April bestätigte das Pentagon, dass sich die russische Armee vollständig aus den nördlichen Regionen der Ukraine zurückgezogen habe. Zeitgleich mit dem Rückzug der Truppen nahm die Zahl der verdächtigen Sendungen aus den Grenzstädten allmählich zu. Waren es am 26. März noch 338 Kilogramm, so lag das Gewicht am 29. März bei über einer Tonne und am 2. April bei über 2,5 Tonnen.

Der Spitzenwert wurde am 4. April mit fast vier Tonnen erreicht. Nach einem kurzen Einbruch stieg das Gewicht der verdächtigen Paketsendungen innerhalb einer Woche wieder auf drei Tonnen an, danach begann der Rückgang.

Zwischen dem 21. Februar und dem 20. Mai wurden mehr als 15 Tonnen verdächtiger Fracht aus der Stadt Waluiki verschickt. Die Stadt liegt 30 Kilometer von der Grenze zur Ukraine und 20 Kilometer von der selbsternannten "Volksrepublik" Luhansk (LNR) entfernt. Aus Klintsy, einer Stadt 60 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt, wurden im gleichen Zeitraum mehr als 13 Tonnen Fracht verschickt. Von dem bereits erwähnten Nowosybkow wurden sieben Tonnen verdächtiger Waren verschifft.

An vierter Stelle steht das belarussische Mazyr, wo die Militärs ursprünglich gesichtet wurden. Es folgen Rossosch, Dschankoj und Rylsk.

Kontrolle der Ergebnisse

Um sicherzustellen, dass die Paketmengen kein Zeichen einer generell starken Anbindung russischer Städte an der Ukraine-Grenze und sibirischen Städten sind, hat "Mediazona" überprüft, wie viele Pakete in die entgegengesetzte Richtung geschickt wurden. So gelangten etwa von der Grenze nach Jurga Pakete mit einem Gesamtgewicht von 5,8 Tonnen, aber nur 51 Kilogramm zurück. Tschebarkul, das über 5,5 Tonnen Fracht erhalten hat, hat in den gesamten drei Monaten weniger als zehn Kilogramm an die Grenze geschickt. Aus Kysyl wurde kein einziges Paket an die Grenze geschickt.

Diese Gegenkontrolle funktioniert sogar in den größten Millionenstädten. Jekaterinburg erhielt sechs Tonnen von der Grenze, schickte aber nur etwas mehr als 2,5 Tonnen zurück. Nowosibirsk erhielt 2,2 Tonnen, versendete aber nur knapp 1,5 Tonnen.

Die Top-Empfänger

Zwischen dem 21. Februar und dem 20. Mai gingen in Moskau und Jekaterinburg mit 10,3 Tonnen beziehungsweise sechs Tonnen die meisten Sendungen aus den Grenzstädten ein. Aber führend unter den "verdächtigen" Städten ist insbesondere Jurga, eine Stadt im Nordwesten der Region Kemerowo: Denn in die Stadt, in der nur 80.000 Menschen leben, wurden von der ukrainischen Grenze Pakete mit einem Gesamtgewicht von 5,8 Tonnen geschickt.

Aus Jurga stammen außerdem drei große Militäreinheiten: die 106. Logistikbrigade, die 120. Artilleriebrigade und die 74. motorisierte Schützenbrigade. Letztere ist keine Unbekannte: Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region Kiew hatte der Berater des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, Olexij Arestowytsch, eine Liste der in Butscha, Hostomel und Irpin stationierten Einheiten veröffentlicht. (Das sind jene Orte, in denen russische Streitkräfte mutmaßlich Kriegsverbrechen verübt haben. Nach ihrem Abzug waren unter anderem Massengräber und zahlreiche getötete Zivilisten gefunden worden, Anm.) Unter den dort stationierten Einheiten war demnach auch die 74. motorisierte Schützenbrigade aus Jurga. Nach den Zählungen von "Mediazona" wurde ein Soldat der Einheit festgenommen und mindestens 27 Soldaten aus Jurga bei Kämpfen getötet.

Pakete in die Heimat bedeutender Regimente

Die Stadt Tschebarkul in der Region Tscheljabinsk belegte den zweiten Platz in Bezug auf das Auftragsgewicht. Dort sind zwei Panzerregimenter stationiert, das sechste und das 239. Im März wurde der Tod des Kommandeurs des sechsten Panzerregiments, Oberst Aleksandr Zakharov, bekannt. Nach den Zählungen von "Mediazona" wurden 27 Militärangehörige aus dieser Stadt in der Ukraine getötet.

Insgesamt 116 verdächtige Pakete mit einem Gewicht von mehr als 3,5 Tonnen wurden nach Kysyl, der Hauptstadt von Tywa, geschickt. Die 55. unabhängige motorisierte Schützenbrigade ist in Kysyl stationiert. "Mediazona" zählt elf Todesfälle unter den in der Ukraine tätigen Soldaten aus dieser Stadt. Weitere verdächtige Städte sind Nowosibirsk, Miass, Ulan-Ude und andere.

Rubzowsk, wohin am 1. und 2. April die meiste Fracht aus Masyr adressiert wurde (zwei Drittel erreichten die Empfänger nicht), erhielt während des Beobachtungszeitraums relativ wenige Pakete: 74 Sendungen mit einem Gewicht von rund zwei Tonnen.

Folgende interaktive Infografik zeigt das Sendungsvolumen zwischen Sendungs- und Empfangsorten. Sie sind nach Regionen gruppiert und farblich hervorgehoben. Je breiter die Linie, desto mehr Sendungen wurden verschickt. Durch Klick auf den "Start"-Button startet die Timeline.

Wie der Adler zur Beute wurde

Viele SDEK-Paketstellen werden rund um die Uhr videoüberwacht. Nachdem "Mediazona" die ungewöhnliche Anzahl von Sendungen aus Waluiki aufgefallen war, wurde das Überwachungsmaterial ausgewertet, um zu verstehen, was dort seit dem 20. April vor sich ging. Jeden Tag kamen Männer in Militäruniform in die Sammelstelle, wickelten Militärrucksäcke in Folie ein und legten sie an der Kasse ab. In den meisten Fällen war es unmöglich, den Inhalt zu identifizieren.

Am 29. April um 17.18 Uhr betrat ein Offizier – seinen Schulterklappen nach zu urteilen, ein Hauptmann – die SDEK-Paketstelle. Hinter sich schleifte er eine schwere Kiste über den Boden. Zwei Angestellte des SDEK kamen heraus, um zu sehen, was die Militärs dieses Mal mitgebracht hatten. Der Offizier öffnete den Container: Er enthielt eine Drohne, die der sogenannten Orlan-10 ähnelte – einer nach dem Seeadler benannten russischen Aufklärungsdrohne, die von der Armee genutzt wird. Sie wird von den russischen Streitkräften in der Ukraine zur Unterstützung von Konvois bei der Erkennung und Verortung von Zielen eingesetzt. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums gibt es auch eine "Angriffsvariante" mit Bomben an Bord. Laut Pentagon liegt der Preis der Drohne samt Bodenausrüstung zwischen 87.000 und 120.000 US-Dollar.

Nach einem kurzen Streit zwischen dem Offizier und den Angestellten – soweit man das auf dem Video beurteilen kann – nahmen Letztere den Sendungsauftrag auf. Die Drohne wurde dafür abgewogen und mit einem Maßband vermessen. In der Zwischenzeit betraten andere Kunden ungehindert die Filiale. Nachdem der Offizier fünf Minuten lang an dem Gerät herumgefummelt hatte, trug er mit einem anderen Offizier die Kiste in den hinteren Teil des Büros.

Ein Screenshot des Überwachungsvideos aus der SDEK-Paketstelle in Waluiki am 29. April.
Foto: Mediazona

"Mediazona" ist es nicht gelungen, die Zieladresse für das Paket des Offiziers ausfindig zu machen. An dem entsprechenden Tag gab es mehrere Paketsendungen mit einem Gewicht von mehr als zehn Kilogramm von Waluiki aus nach Bataisk, Berdsk, Wyborg, Selenogorsk, Kysyl, Moskau, Murmansk, Nowosibirsk, Ulan-Ude, Ussurijsk und Chabarowsk. Doch auf den Überwachungsvideos der SDEK-Filialen in diesen Städten konnten keinerlei Pakete in der Größe entdeckt werden.

Neben der Orlan-10 ergab die Auswertung des SDEK-Überwachungsvideos aus Waluiki, dass Menschen in Militäruniform unter anderem Turnschuhe, Autoreifen, ein Mikrofon, einen Fernseher, Würste, Konserven, eine Gitarre, ein Zelt und vieles mehr verschickten. Dies ist auch in folgendem Video ersichtlich:

Auf eine Anfrage von "Mediazona" hat SDEK noch nicht reagiert. (Mediazona, DER STANDARD, 2.6.2022)