Zu späterer Stunde lieferten sich radikale jüdische Siedler und palästinensische Mobs Straßenschlachten.

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Der Flaggenmarsch an der Klagemauer.

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Geschätzt 70.000 Menschen nahmen teil.

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Nach Angaben der Jerusalemer Stadtverwaltung sicherten etwa 2.000 Polizisten die Kundgebung ab.

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Die Reporterin Hala S. steht in der ersten Reihe, direkt hinterm Zaun, der die Journalisten von den Marschierenden trennt, und sie filmt. Einen halben Meter unter ihr ziehen jüdische Nationalisten vorbei. "Flaggentanz" nennen sie das, und die meisten tragen Israelflaggen, aber nicht alle. Manche schwenken die schwarz-gelben Fahnen der rechtsextremen Organisation Lehava.

Die flaggentragenden Massen strömen an Hala vorbei, aber viele bleiben kurz stehen, als sie sehen, dass die Reporterin ein Kopftuch trägt. Hala filmt sie, als sie ihr die Zunge zeigen, den gestreckten Mittelfinger, sie als Hure beschimpfen und ihr ins Gesicht spucken. Über ihre Backe rinnen Tränen und der Schleim eines Unbekannten, aber Hala filmt weiter.

Auf den Stufen, die zum Damaskustor führen, ist kein Platz mehr, doch immer mehr Flaggenträger rücken nach. "Bitte schaffen Sie Platz, gehen Sie weiter in Richtung Klagemauer", ruft ein Polizist durch Lautsprecher, und er wünscht einen "fröhlichen Feiertag".

Tag der Trauer und des Zorns

Am Sonntag feierten nationalistisch-religiöse Israelis den Jerusalemtag, an dem der Eroberung Ostjerusalems durch Israel im Jahr 1967 gedacht wird. Für Palästinenser ist es ein Tag der Trauer und des Zorns, und für manche von ihnen ein Anlass, um wieder einmal zu betonen, dass für Juden kein Platz im Nahen Osten sei.

Seit 1967 leben die palästinensischen Ostjerusalemer unter israelischer Besatzung. Den Radikalen, die bei der Flaggenparade mitziehen, ist das nicht genug. Sie wollen nicht nur Besatzung, sie wollen die Palästinenser am liebsten aus Ostjerusalem vertreiben. "Bald seid ihr nicht mehr hier", jubelt ein älterer Mann, während er die Israelflagge vor den Kameras der palästinensischen Journalisten schwenkt. "Israel den Juden, Araber raus!"

Der Flaggenmarsch, der vom israelischen Premierminister genehmigt werden muss, führt durch sensibles Gebiet: Die Fahnenträger betreten die Altstadt durchs Damaskustor, einem beliebten Treffpunkt der palästinenischen Jerusalemer. Sie ziehen durchs muslimische Viertel und weiter bis zur Klagemauer. Beim jährlichen Flaggenmarsch zeigen die nationalistischen Juden den Palästinensern, wem Jerusalem gehört.

70.000 Menschen

Laut Schätzungen der Polizei marschierten Sonntagabend 70.000 Menschen auf. In den Tagen vor der Parade war heftig debattiert worden, ob es tatsächlich eine gute Idee sei, Juden durch die muslimische Altstadt ziehen zu lassen. Hunderte Polizisten wurden von anderen Städten abgezogen, um die Parade zu sichern. Im vergangenen Jahr hatte Hamas mit Raketenbeschuss gedroht, sollte der Marsch wie geplant stattfinden. Er wurde dann zwar in letzter Sekunde abgesagt, die Raketen flogen trotzdem. Die darauf folgende militärische Eskalation mit den Terrorgruppen in Gaza dauerte elf Tage.

Die Erinnerungen an den Krieg sind noch frisch, trotzdem genehmigte Premierminister Naftali Bennett den Marsch in seiner umstrittenen Route. Zu groß ist der Druck aus dem eigenen nationalreligiösen Lager auf ihn. Ein Jahr, nachdem er mit Linken und Arabern eine Acht-Parteien-Koalition eingegangen ist, steht nicht nur diese Regierung vor dem Zerfall, sondern auch seine Kleinpartei Jamina.

Exekutive schritt kaum ein

Die Mehrheit der Israelis kann mit der Flaggenparade in Jerusalem wenig anfangen. "Ich kriege Gänsehaut, wenn ich das sehe", sagt die 60-jährige Rachel, eine Tochter österreichischer Holocaust-Überlebender, die in Israel geboren ist und in Jerusalem lebt. Mit Religion oder Zionismus habe dieser Marsch wenig zu tun, meint Rachel: "Das sind Extremisten, die nicht wissen, wohin mit ihrer Gewalt." An diesem Tag achte sie darauf, ihre Wege kurz zu halten. Die Schlachtgesänge der jungen Nationalisten und Nationalistinnen, oft sind es Ultras des Jerusalemer Fußballclubs Beitar, jagen ihr Angst ein.

Zwar versichert Premierminister Bennett am Abend der Parade, dass die Polizei "null Toleranz für Gewalt oder Provokationen von Extremisten" zeigen werde. Als dutzende zionistische Teenager auf den Stufen vor dem Damaskustor "Tod den Arabern, Tod den Arabern" skandieren, tun sie das direkt vor dem Balkon der lokalen Polizeistation, auf dem sich die Führungsfiguren des Jerusalemer Polizeicorps versammelt haben und mit verschränkten Armen dem Treiben zuschauen. Nur einmal schreitet der Polizeichef ein, mahnt die Jungen zu weniger blutrünstigen Tönen. Wenig später stimmen sie erneut an: "Der Jude ist eine Seele, der Araber ein Hurensohn." Als ein Palästinenser durch die Menge läuft, Palästinenserflagge in der Hand, wird er von schwerbewaffneten Grenzpolizisten überwältigt und abgeführt. Die Fahne wird konfisziert.

Straßenschlachten im Brennpunktbezirk

In den späteren Abendstunden liefern sich radikale jüdische Siedler und palästinensische Mobs Straßenschlachten im Brennpunktbezirk Sheikh Jarrah. Diese fordern laut der Rettungsorganisation Roter Halbmond mehr als 60 Verletzte. Es ist ein Abend, der in den israelischen Medien als "vergleichsweise ruhig und friedlich" beschrieben werden wird.

In palästinensischen Medien dominieren jedoch die Videos jüdischer Radikaler, die sich durch die Altstadt drängen, an die Fenster und Rollläden palästinensischer Häuser klopfen und "Mohammed ist tot" rufen. Und auch die Bilder der betenden Juden am Areal der Al-Aksa-Moschee, wo Juden laut Status quo nur ausnahmsweise Zutritt haben und dort auf keinen Fall religiöse Handlungen ausführen dürfen. 2.600 Juden besuchten Sonntagvormittag das Areal, so viele wie noch nie. Beschützt wurden sie von israelischen Sicherheitskräften.

Am Damaskustor war der Chef der Jerusalemer Polizei höchstpersönlich anwesend. Als einer der Flaggenträger einer palästinensischen Journalistin das Handy, mit dem sie filmte, aus der Hand riss und damit davonlief, stand er wie viele andere Polizisten nur wenige Schritte entfernt. Als ihn die Journalistin um Hilfe bat, schickte der Polizeichef sie zu einem Kollegen, der israelischer Araber ist. Der riet ihr: "Gehen Sie doch zur Polizei, erstatten Sie Anzeige." (Maria Sterkl, 30.5.2022)