Mischen das Publikum auf: Anson Boon als John Lydon alias Johnny Rotten (mitte) und Toby Wallace als Steve Jones (rechts) in "Pistol".

Foto: Miya Mizuno/FX

In Danny Boyles "Pistol" als Sex Pistols zu sehen (von links): Jacob Slater als Paul Cook, Anson Boon als Johnny Rotten, Toby Wallace als Steve Jones und Christian Lees als Glen Matlock.

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Die Feiern zum 25. Thronjubiläum von Queen Elizabeth II kommen den Sex Pistols 1977 gerade recht. Wenige Tage nach dem Erscheinen der Single "God Save the Queen" mietet ihr Manager Malcolm McLaren ein Schiff, mit dem die bereits berühmt-berüchtigte Punkband in London auf der Themse fährt und ihre Songs lautstark den Houses of Parliament entgegenschleudert. Die Parodie der für zwei Tage später geplanten Flussprozession der Königin endet in völligem Chaos. Die Bandmitglieder werden von Bord eskortiert, andere Teilnehmer wie McLaren verhaftet. Zum Jubilee-Weekend ist die Single bereits 150.000-mal verkauft und trotz des Boykotts durch die meisten Radiostationen unaufhaltsam auf dem Weg zur Chart-Spitze. Während die BBC den verbannten Song nur mit einem nackten Strich verschämt auf Platz zwei ausweist, thront er beim "New Musical Express" auf Platz eins.

Der Wirbel um "God Save the Queen" ist eine Wegmarke, um die auch die sechsteilige Serie "Pistol" von Regisseur Danny Boyle ("Trainspotting", "Slumdog Millionaire") und dem für seine Zusammenarbeit mit Baz Luhrmann bekannten Drehbuchautor Craig Pearce ("The Great Gatsby") nicht herumkommt. Rechtzeitig zum nunmehr 70. Thronjubiläum von Queen Elizabeth II startet am Dienstag in englischsprachigen Ländern die fiktionalisierte Geschichte einer Band, die nur zweieinhalb Jahre existierte, in denen sie, von der Musik bis zum Dresscode, zum Inbegriff der britischen Punkbewegung wurde und die Popkultur für immer veränderte. Zu sehen auf Hulu und damit ausgerechnet auf einer Tochter des Familienunterhaltungskonzerns Disney. Hierzulande muss man auf den Start aus nicht kommunizierten Gründen indessen noch warten.

"Respektlosester Scheiß"

Für unüberhörbares Störfeuer im Vorfeld sorgte nicht das britische Königshaus, sondern John Lydon, unter dem Bühnennamen Johnny Rotten einst Frontman der Sex Pistols. Lydon hat Boyles Serie nicht nur als "Mittelklasse-Fantasie", sondern als den "repektlosesten Scheiß" kritisiert, den er je erdulden musste – wobei einiges dafür spricht, dass Lydon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als den Trailer gesehen hatte. Lydon bemühte sich zudem darum, die Verwendung der Musik der Sex Pistols zu verhindern, unterlag allerdings vor Gericht seinen früheren Bandkollegen Paul Cook und Steve Jones.

"Lonely Boy: Tales from a Sex Pistol", die Autobiografie von Gitarrist Jones, ist es auch, die Boyle als Richtschnur für seinen Gang durch die Bandgeschichte diente. In seinem Buch berichtete der für die Keimzelle der Sex Pistols verantwortliche Jones ziemlich schonungslos über eine von sexuellem Missbrauch durch den Vater geprägte Kindheit, Kleptomanie, Sex- und Drogensucht, aber eben auch von den folgenreichen Begegnungen mit Lydon, McLaren und dessen Freundin, der Modedesignerin Vivienne Westwood.

Trailer zu "Pistol".
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Manches davon, wie die Liebesbeziehung zur späteren Pretenders-Frontfrau Chrissie Hynde, hat Boyle ausgeschmückt, räumte Jones in einem Interview mit der "New York Times" ein. Gleichzeitig eröffnete dies Boyle neue Perspektiven auf vielfach Erzähltes. Neben die berühmt-berüchtigte Geschichte des Junkie-Paares Sid Vicious und Nancy Spungen, auf die Alex Cox einst in seinem räudigen Kinofilm "Sid & Nancy" fokussierte, tritt mit Chrissie und Steve jene einer Mentorin und ihres streetsmarten Lehrbuben.

Geniales Schandmaul

Um Lydon alias Johnny Rotten gibt es ohnehin kein Herumkommen. Es ist das geniale Schandmaul mit dem quecksilbrigen Temperament, das den skandalisierten Song "God Save the Queen" nicht auf eine antiroyalistische Provokation reduziert sehen will und lange auf dem ursprünglichen Titel "No Future" besteht. In einer witzigen Szene bei Boyle, zumindest so viel darf verraten werden, ist es die eigene Mutter, die Lydon dann beim Hören der Hymne einer um ihre Zukunft gebrachten Jugend in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie belehrt.

Boyle, ein erklärter Fan und Altersgenosse der Sex Pistols, hat sein unverbrauchtes Ensemble, darunter Toby Wallace als Steve Jones und Anson Boon als Johnny Rotten, eigens in ein Bandcamp geschickt und selbst zu den Instrumenten greifen lassen. Zu erzählen, welch gewaltigen Einfluss "Never Mind the Bollocks, Here's the Sex Pistols", das vor 45 Jahren erschienene einzige Studioalbum der Sex Pistols, auf die Popgeschichte haben sollte, welche Barrieren es niederreißen sollte, hätte von vornherein den Rahmen der Erzählung gesprengt. Lydons Kritik fasst Boyle laut einem Interview mit dem "Guardian" indessen sogar als eine Art Bestätigung für seine Serie auf: "Ich liebe John Lydon für das, was er tut, und ich will nicht, dass er die Serie mag – ich will, dass er sie attackiert. Ich denke, er hat absolut recht. Warum sollte er eine lebenslange Angewohnheit ändern?" (Karl Gedlicka, 31.5.2022)