Sowjetische Symbole sind allgegenwärtig.

Foto: AP/Alexander Zemlianichenko

Manchmal scheint es, als wäre der Kommunismus nie ins Wanken geraten. Als würde die Sowjetunion nach wie vor existieren, mit allen Insignien ihrer politischen Ideologie. Rote Flaggen, roter Stern, Hammer und Sichel: Im Russland von heute sind sie immer noch Bestandteil des Alltags und des öffentlichen Raums – nicht allgegenwärtig zwar, aber dort, wo sie auftauchen, auch nicht überraschend.

Obwohl sich das Land bereits vor mehr als drei Jahrzehnten von den Idealen einer planwirtschaftlich organisierten Gesellschaft verabschiedet hat, gehören die Symbole der sowjetischen Vergangenheit nach wie vor zum fixen Kulissenrepertoire staatlicher Großveranstaltungen. Vor allem die alljährliche Militärparade am 9. Mai, dem Tag des Gedenkens an den Sieg über Hitlerdeutschland, folgt einer Inszenierung, die keinerlei Berührungsängste gegenüber der Ästhetik der einstigen Diktatur kennt.

Schwache Logik

Die innere Logik ist zunächst nachvollziehbar: Es war eben nicht Russland, sondern die Sowjetunion, die 1945 im "Großen Vaterländischen Krieg" gemeinsam mit den Westalliierten die Deutsche Wehrmacht besiegte und Europa von den Nationalsozialisten befreite. Doch dort, wo ein historischer Konnex zum aktuellen Krieg gegen die Ukraine suggeriert werden soll, wie es auch Wladimir Putin am 9. Mai in seiner Rede auf dem Roten Platz getan hat, greift diese Logik nicht mehr: Unter den Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs waren besonders viele Ukrainerinnen und Ukrainer; und in der Ukraine von heute sind keine "Nazis" am Ruder, wie Moskau glauben machen will.

Seit Kriegsbeginn Ende Februar scheinen die Symbole der sowjetischen Vergangenheit noch um einiges öfter zum Vorschein zu kommen. Zum Teil mag das an der selektiven Wahrnehmung westlicher Medien liegen oder auch daran, dass man insgesamt genauer nach Russland blickt. Doch vieles deutet auch darauf hin, dass dort die Versatzstücke der Vergangenheit bewusst eingesetzt werden, um die Selbstdefinition als Großmacht emotional noch stärker zu unterfüttern.

"Babuschka Z"

Beispielhaft dafür steht die Frau, die als "Oma mit der Roten Fahne" berühmt wurde. In Russland nennen viele sie "Babuschka Z" – um auch gleich noch das Z, das Symbol des russischen Angriffs auf die Ukraine, zu bemühen. Das Handyvideo, das rasch viral ging, wurde Anfang April aufgenommen, angeblich irgendwo in der Nähe von Charkiw. Zu sehen ist, wie eine alte Dame mit Kopftuch sich einer Gruppe von Soldaten nähert, die sie offenbar für Russen hält. Sie kommt wie zum Gruß, in der Hand trägt sie eine rote Sowjetflagge. Die Männer geben ihr ein Päckchen mit Hilfsgütern, erweisen sich aber als Ukrainer. Einer wirft ihre rote Fahne zu Boden und tritt darauf. Die Frau ist sichtlich irritiert: Ihre Eltern seien einst für diese Flagge gestorben, sagt sie. Die Lebensmittel will sie von den Ukrainern nun nicht mehr annehmen.

Es ist bloß ein Zwei-Minuten-Clip, doch es ist der Stoff, aus dem Propagandistenträume sind. Über die Entstehungsgeschichte des Videos sowie über die Identität von "Babuschka Z" wurde viel spekuliert und gestritten. Entscheidend aber ist, dass sie zur Ikone der Kriegsbefürworter wurde, dutzendfach verewigt in Reden von Politikern, auf Bildern, als Wandgemälde und – ausgerechnet im mittlerweile schwer zerstörten Mariupol – sogar als Denkmal. Dass der Kreml generell kein Interesse an einer kritischen Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur hat, war auch schon vor dem Angriff auf die Ukraine klar.

Inhaltsleere Symbole

Letzte Gewissheit darüber bot das Verbot von Memorial, einer Organisation, die sich auch mit den Verbrechen des Stalinismus befasste. Und dennoch: Eine wirkliche Nähe zur kommunistischen Ideologie wird Putin und seiner Gefolgschaft kaum jemand attestieren wollen.

Fazit: Die Symbole der Sowjetzeit sind politisch weitgehend inhaltsleer geworden und bedienen lediglich die Sehnsucht nach ehemaliger Größe. Vor allem bei der älteren Generation würde das häufig funktionieren, sagt Kerstin S. Jobst, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. "Diese Menschen erinnern sich vielleicht daran, wie sie selbst früher als junge Komsomolzen marschiert sind. Oder daran, wie sie im Artek waren, dem berühmten Ferienlager auf der Krim, und sich dort als Teil einer Weltmacht fühlten."

Reaktivierung der Hymne

Bewährte Muster mit hohem Wiedererkennungswert würden nun partiell mit neuen Bedeutungen angereichert, sagt Jobst. "Das hilft dabei, Kontinuitäten herzustellen und die vielfachen Brüche einfach zu übergehen."

In der jüngeren russischen Geschichte gibt es noch ein weiteres Beispiel dafür, wie im Sinne der Stärkung einer kollektiven Identität alte Formen reaktiviert werden können, ohne damit ein Bekenntnis zu den alten Inhalten abzugeben: Die russische Hymne nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 erwies sich als wenig mitreißend. Und sie hatte noch einen weiteren Schönheitsfehler: Es gab keinen offiziellen Text, den man hätte mitsingen können. Im Jahr 2000, schon unter Präsident Putin, kehrte man dann wieder zur früheren, sowjetischen Hymne zurück. Mit neuem Text zwar, aber mit der wohlbekannten Melodie von damals. (Gerald Schubert, 31.5.2022)