Das geht ja noch. Oft jedoch sind die Regionalzüge der Deutschen Bahn so überfüllt, dass gar nicht mehr alle hineinkommen. Auf den ICE kann man mit dem Neun-Euro-Ticket allerdings nicht ausweichen.

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Die Frage, die auf der deutschen Nordsee-Insel Sylt für erhöhtes Adrenalin sorgt, ist eigentlich ganz harmlos. "Welchen Zug nehmen wir denn jetzt?", steht da auf Twitter.

Doch die Hashtags dazu, nämlich #Syltokalypse oder #SyltEntern, lassen ahnen, dass die nächsten drei Monate auf dem Eiland für die Reichen, Schönen und Prominenten nicht einfach werden könnten.

Man ist dort gern unter sich, die Preise sind entsprechend. Ab 1. Juni, dem Mittwoch also, wird sich das ändern. Dann gilt in Deutschland das Neun-Euro-Ticket für den Nahverkehr. Wer es erwirbt, kann in den Sommermonaten Juni, Juli und August jeweils für neun Euro Straßenbahnen, U-Bahnen, S-Bahnen sowie Fähren des ÖPNV nutzen, ebenso Linienbusse und Bahnen im Nah- und Regionalverkehr. Ausgenommen ist der Fernverkehr.

Idee der Ampel

Ersonnen hat diese Aktion die deutsche Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP. Es war eine Reaktion auf die Spritpreise, die seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine im Februar dieses Jahres stark gestiegen sind.

Die Idee dahinter: Die Deutschen sollen das Auto nicht teuer und zulasten der Umwelt betanken, sondern stehen lassen und stattdessen, zu sehr günstigen Preisen, auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen.

Doch möglicherweise wurde nicht einkalkuliert, wie gut dieses Neun-Euro-Ticket angenommen werden würde. Schon in den ersten Stunden nach dem Verkaufsstart vor einer Woche waren 200.000 Tickets weg. "Wir erleben gerade einen historisch großen Zugriff auf unsere Vertriebssysteme", sagte der Chef der Unternehmenstochter DB Regio (Deutsche Bahn Regio), Jörg Sandvoß, und bekannte, er habe "keinen blassen Schimmer", wie viele Menschen das Angebot insgesamt nutzen werden.

Partyzone Sylt

Zwei Tage später ist die einmillionste Befugnis zur Beförderung verkauft worden. Im Internet kursieren bereits Pläne, Sylt zu einer einzigen Partyzone zu machen – nun, da die Anreise über den Hindenburgdamm ja so günstig ist.

Doch auch an anderen touristischen Hotspots blickt man mit gemischten Gefühlen auf den zu erwartenden Ansturm. Kaum ein deutsches Medium verzichtet derzeit auf Tipps, wo Deutschland besonders schön ist – und wie man an all die interessanten Plätze kommt.

Nicht fehlen dürfen auch Hinweise, wie man am besten quer durch die Republik fährt – etwa vom nördlichen Rostock ins südliche Freiburg in 14 Stunden und 48 Minuten mit achtmal umsteigen.

Das Neun-Euro-Ticket hat die Regierung auf den Weg gebracht, um mehr Menschen vom Auto loszueisen.
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Und doch, es wird ein großes Experiment. Die Deutsche Bahn will zwar aufstocken und 50 Züge zu den 7000 Zügen, die derzeit täglich im Einsatz sind, dazupacken. Das macht 250 Extrafahrten und 60.000 zusätzliche Sitzplätze pro Tag, vor allem entlang der touristischen Strecken – an die Nord- und Ostsee, in die Alpen oder die Sächsische Schweiz.

Dennoch gibt es Zweifel von vielen Seiten, zumal in den Ballungsräumen die Züge jetzt schon an den Wochenenden mit Pendlern, Ausflüglern, Fahrrädern und Kinderwägen heillos überfüllt sind.

Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn warnt: "Sie werden in einigen Regionen damit rechnen müssen, dass Sie in den Zug nicht mehr reinkommen, und dass Sie auch Ihr Fahrrad unter Umständen nicht mehr mitnehmen können, weil alle Fahrradplätze belegt sind." Er spricht außerdem von einem "populistischen Schnellschuss ohne nachhaltige Wirkung".

2,5 Milliarden vom Bund

Es wäre aus seiner Sicht klüger, würde der Bund jene 2,5 Milliarden Euro, die er in das Neun-Euro-Ticket investiert, in den Ausbau der Bahninfrastruktur stecken. Denn in abgelegenen Gebieten, wo gar nichts fährt, nutzt auch das schönste Günstigticket nichts.

Die "Wirtschaftsweise" Veronika Grimm hingegen erklärt: "Es ist richtig, Menschen mit niedrigen Einkommen, bedürftige Menschen auch zu entlasten. ÖPNV zu vergünstigen, das ist ebenfalls richtig."

Die Regierung hofft, dass Menschen, die sich bisher nur mit dem Auto fortbewegt haben, mit der Aktion auf den Geschmack kommen. Das könne aber auch nach hinten losgehen, warnt der Verkehrsminister von Baden-Württemberg, Winfried Hermann (Grüne). Dann nämlich, wenn Interessierte durch Chaos erst einmal abgeschreckt werden. In dem Fall hätte man ein "Eigentor" geschossen.

Derlei befürchtet auch Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Er sagte in der Bild-Zeitung: "Wenn die Verkehrsbetriebe mit den Menschenmassen überfordert sind, muss die Bundespolizei eingreifen."

Aber vielleicht wird ja alles ganz anders. So meint Nikolas Häckel, parteiloser Bürgermeister der Insel Sylt: "Ich glaube nicht, dass wirklich alle kommen, die das gerade im Internet ankündigen." Der erste Härtetest jedenfalls steht schon an diesem Pfingstwochenende bevor, vor allem dort, wo es warm wird. (Birgit Baumann aus Berlin, 31.5.2022)