Die Sowjet-Symbole waren bei der Truppenparade auf dem Roten Platz am 9. Mai sehr prominent platziert.

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Mittags sind noch Tische frei, doch abends ist es brechend voll im Restaurant "Sowjetische Zeit" in der Moskauer Innenstadt. Das Lokal ist im Sowjet-Stil gehalten: einfache Holztische, harte Stühle, Propagandaplakate von damals und Fotos von Stalin bis Gorbatschow. Es gibt Tschebureki, fettig herausgebackene Teigtaschen mit einer Füllung aus Faschiertem, Kartoffeln oder Käse.

Retro-Restaurants gibt es einige in Moskau, bislang eher Nostalgie. Doch jetzt geht es zurück in eine Vergangenheit, die in den Staatsmedien zunehmend verklärt wird. Die "Spezialoperation" in der Ukraine, wie die Invasion hier genannt werden muss, die Sanktionen, der Rückzug westlicher Konzerne: Russland soll in Zukunft auf eigenen Beinen stehen, so die Vorstellung des Kreml. Und sie verfängt bei vielen Menschen in einem Land, in dem es kaum noch unabhängige Medien gibt.

Keine Angst vor Entbehrungen

"Ich bin so enttäuscht vom Westen, dass es mir nichts ausmacht, wieder hinter dem Eisernen Vorhang zu leben", sagt die Pensionistin Wera. Sowjet-Leben, mit allen Entbehrungen und Versorgungskrisen schreckt Wera nicht. Sie baut auf ihrer Datscha Gemüse an, legt Gurken und Paprika ein. Wie schon damals.

Marina, 60 Jahre alt, will nicht zurück in die Vergangenheit. "Die Sowjetunion hatte ihre Vorteile, aber ich möchte nicht wieder unter diesen Bedingungen und nach diesen Regeln leben. Es war unerträglich, jahrelang auf eine Wohnung zu warten, jahrelang auf ein Auto zu warten oder einfach etwas zu kaufen."

Auf das Auto warten, das wird es in der Sowjetunion 2.0 wohl nicht geben. Der Moskwitsch kommt wieder! Jenes kantige Kultauto von damals, dem deutschen Opel Kadett nachempfunden. Gebaut werden soll der Moskwitsch vor den Toren Moskaus, im ehemaligen Werk von Renault. Der französische Konzern hat Russland verlassen. Die Produktion des neuen Autos soll bereits Ende 2022 beginnen. Und natürlich wird der neue Moskwitsch kein russisches Auto à la Opel Kadett sein, sondern ein chinesischer Kleinwagen, der in Moskau montiert werden wird. Entsprechende Gespräche mit Herstellern in China laufen.

Modelabels wie Zara werden von russischen Firmen übernommen, die Kleidungsstücke werden wohl, wie bei den europäischen Marken auch, in China, Indien und anderen Billiglohnländern genäht werden. Und auch McDonald’s macht wieder auf. Mit den gleichen Burgern, von den gleichen Lieferanten, mit dem gleichen Personal und den gleichen Fritteusen. Nur unter neuem Namen. "Delicious Burger" ist im Gespräch. Der sibirische Großunternehmer Alexander Govor hat die Kette übernommen. Bereits im Juni soll es losgehen.

Kapitalismus mit rotem Anstrich

Viele Produkte wird es unter neuem Namen geben, mit Versorgungskrisen ist zunächst nicht zu rechnen. Lieferwege werden sich ändern, die Zusammenarbeit mit China wird enger. Der Kapitalismus bleibt, nur kommt er jetzt im rot-russischen Mäntelchen daher.

Viel tiefgreifender jedoch wird die ideologische Umorientierung sein. Und die beginnt bereits bei den Kleinsten. Ab dem 1. September wird zu Beginn jeder Schulwoche die Nationalflagge gehisst und die Hymne gesungen. Geschichtsunterricht wird es ab der ersten Klasse geben, gelehrt werden soll auch eine neue Geschichtssicht.

Das Singen der Hymne – viele Eltern finden das gut. "Dies ist eine völlig normale Erziehung zum Patriotismus und zur Gewöhnung an die Symbole des Staates." Manche Lehrer sind da deutlich skeptischer: "Wir hatten keine Zeit, diese Initiative auch nur am Rande zu diskutieren. Manchmal kennen die Schüler bei Veranstaltungen nicht einmal den Text der Hymne oder wollen aus irgendeinem Grund nicht mitsingen." Statements aus dem Internet.

Neue "Pioniere"

Wiederbeleben möchte man auch die Kinderorganisation der "Pioniere" – im Mai 1922 gegründet, um die künftigen Erbauer des Sowjetstaates zu erziehen. Genau 100 Jahre später, am 19. Mai, legten Abgeordnete in der Duma einen Gesetzesentwurf zur Gründung einer neuen, gesamtrussischen Kinderorganisation vor. Nach einer Umfrage unterstützen 38 Prozent der Russen diesen Plan.

Alexander war einer der letzten Pioniere zu Sowjetzeiten. "Als Kind habe ich davon geträumt, weil ich das rote Halstuch mochte." Aufgewachsen ist Alexander dann im Umbruch nach dem Zerfall der Sowjetunion, in den Zeiten der wirtschaftlichen Not. Zurück in die Sowjetunion? Niemals, so sagt er. "Es war schwer zu leben, und manchmal gab es nichts zu essen. Aber es gab Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, und in der Schule wurden objektive Dinge gelehrt." (Jo Angerer aus Moskau, 31.5.2022)