In zahlreichen Studien wird auf den positiven Effekt von Einbürgerungen verwiesen. Diese dienen sogar als Motor für Integration, wenn die Einbürgerungszeit nicht zu lange dauert, sagt Politologe Gerd Valchars.

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Der Kanzler hat schon wieder eine Debatte für beendet erklärt: Ebenso wenig wie die Neutralität will Karl Nehammer das Staatsbürgerschaftsrecht überdenken. Doch gerade das reizt zum Widerspruch. Nach Bundespräsident Alexander Van der Bellen plädiert nun auch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) – und zwar via "Kronen Zeitung" – für eine liberalere Praxis bei Einbürgerungen. Gerade in der von ihm regierten Bundeshauptstadt sind die Hürden bei den Einbürgerungen mitunter am größten.

Frage: Warum regt sich immer mehr Kritik?

Antwort: Weil es, so sagen Experten, außerordentlich schwer sei, die Staatsbürgerschaft zu ergattern. Laut dem von Thinktanks eingerichteten Migrant Integration Policy Index ist der Zugang unter 56 verglichenen Staaten gar nur noch in den Arabischen Emiraten und Saudia Arabien restriktiver. In der vergangenen Dekade wurden laut Statistik Austria Jahr für Jahr gerade einmal 0,6 bis 0,7 Prozent der Nichtösterreicher im Land eingebürgert, 2011 waren es laut vorläufiger Zahl 9.723. In den jüngsten beiden Quartalen sind die Einbürgerungen insgesamt zwar stark gestiegen, doch dies fällt auf im Ausland lebende Angehörige von NS-Opfern zurück.

Frage: Was ist so streng an den Regeln?

Antwort: Während in Österreich das Abstammungsprinzip gilt – Kinder erhalten die Staatsbürgerschaft der Eltern –, folgen Deutschland und andere EU-Länder dem bedingten "ius soli". Das heißt: Sind etwa ausländische Eltern über acht Jahre rechtmäßig in Deutschland, erhält das Kind bei der Geburt automatisch die Staatsbürgerschaft. In Ländern wie Portugal, Belgien und Irland gilt dasselbe, teils sogar mit kürzeren Fristen. Hierzulande muss das Kind erst danach eingebürgert werden. Was in der Theorie einfach klingt, scheitert in der Praxis an zahlreichen Hürden.

Frage: Welche sind das?

Antwort: Das Problem beginnt beim Einkommen. Eine Einzelperson muss 1.030,49 Euro im Monat zum Leben übrig haben, eine Familie 1.625,71 Euro – und zwar nachdem Miete, Unterhaltszahlungen und Kredite abgezogen sind. Inklusive dieser variierenden Ausgaben kommt der Politologe Gerd Valchars auf eine Anforderung von typischerweise mindestens 1.200 Euro netto. Selbst viele Österreicherinnen und Österreicher könnten sich da nicht einbürgern, sagt der Kritiker. Laut Statistik Austria haben 1,37 Millionen Menschen im Land nach Abzug der Wohnkosten nicht mehr als 1.030 Euro netto zur Verfügung, das sind 15,6 Prozent der Bevölkerung.

Wer Staatsbürger werden will, muss in der Regel zehn Jahre kontinuierlich im Land sein. Für Ehepartner von Österreicherinnen und Österreichern, im Inland geborene Kinder und EWR-Staatsbürgerinnen liegt die Dauer bei sechs Jahren. Außerdem muss die Person andere Staatsbürgerschaften zurücklegen, B1-Niveau in Deutsch beherrschen und einen Test über Österreich Geschichte bestehen. Auch Unbescholtenheit ist Pflicht – selbst eine Verwaltungsstrafe kann ein Versagensgrund sein. "Diese Kriterien machen Österreich zu einem der restriktivsten Länder unter den Staaten mit signifikanter Einwanderung", sagt der Migrationsexperte Rainer Bauböck.

Frage: Sind die Bedingungen in ganz Österreich gleich?

Antwort: Nein. Zwar ist das Gesetz Bundessache, aber die Länder müssen es vollziehen. Das bringt unterschiedliche Verwaltungspraxen und Landesgebühren mit sich. Während man in Wien 150 Euro zahlt, ist es in der Steiermark mit bis zu 1.357 Euro am teuersten. Dazu fallen noch 1.150 Euro Bundesgebühren an. "Eine Familie kann also mit Kosten von 2.700 bis 5.500 Euro rechnen", sagt Valchars. Wien ist da zwar am günstigsten, dafür gebe es Probleme anderer Art: Eine heillos überforderte Einwanderungsbehörde, die zu wenig Ressourcen habe und das Gesetz in einer "vorsätzlich restriktiven Art" interpretierte.

Frage: Wie verteidigt die ÖVP den Status quo?

Antwort: Die Staatsbürgerschaft sei ein hohes Gut, dass sich Zuwanderer erst verdienen müssten, so das Kernargument: durch Integration und einen Beitrag für die Gesellschaft.

Frage: Was halten die Kritiker dagegen?

Antwort: Von knapp neun Millionen Bürgern besitzen 1,59 Millionen und damit 17,7 Prozent nicht die österreichische Staatsbürgerschaft – Tendenz steigend. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung wird damit von der demokratischen Mitbestimmung via Wahlen ausgeschlossen, sagt der Integrationsforscher Bernhard Perchinig. Weil dies überproportional junge Menschen betreffe, würden die Verhältnisse verzerrt: "Die ältere und ländliche Bevölkerung bekommt einen Überhang."

Frage: Welche Einwände gibt es noch?

Antwort: Weil sich dringend gesuchte Fachkräfte abschrecken ließen, seien überstrenge Regeln ökonomisch kurzsichtig, glaubt Perchinig. Außerdem sei die Staatsbürgerschaft Studien zufolge geradezu ein Motor für Integration, sagen verschiedene Expertinnen – etwa weil damit die Chancen am Arbeitsmarkt steigen. Wenn die Einbürgerungsfrist zu lange dauere, dann verpuffe dieser Effekt.

Frage: Die ÖVP regiert nicht allein. Will denn der Koalitionspartner auch keine Lockerung?

Antwort: Doch, die Grünen teilen die Kritik weitgehend. Da aber im Koalitionspakt keine Reform vereinbart ist, findet sich die kleinere Regierungspartei mit dem Ist-Zustand ab. (Gerald John, Elisa Tomaselli, 31.5.2022)