Junger Afghane in einer Wohngemeinschaft für Fluchtwaisen. Die meisten anderen alleinreisenden minderjährigen Flüchtlinge verschwinden, auch weil niemand die Obsorge für sie übernimmt.

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Wien – Es ist seit vielen Jahren ein humanitärer Missstand, gegen den bis dato nichts Wirksames unternommen wurde. Ein Großteil jener Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, die allein, ohne erwachsene Verwandte, in Österreich um Asyl ansuchen, verschwinden spurlos. Sie tauchen unter, meist schon in den Tagen unmittelbar nach ihren Asylanträgen.

Ob diese unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF) – überwiegend Buben und Burschen aus Afghanistan und Syrien – zu Verwandten in andere Länder weiterreisen oder ob ihnen Kriminelles widerfährt, sie gar von Menschenhändlern in Arbeits- oder Sexsklaverei gezwungen werden, ist unbekannt.

Drei Viertel aller alleinreisenden Kinder und Jugendlichen, in Zahlen 4489 Personen, verschwanden im Jahr 2021. Das hat die Kinderflüchtlingsexpertin der Asylkoordination, Lisa Wolfsegger, im März auf Grundlage von Statistiken in einer Anfragebeantwortung aus dem Innenministerium ausgerechnet.

Keine Besserung

Nun, drei Monate später, zeigen neue Zahlen aus dem Innenressort: Die Situation ist um nichts besser geworden. Wie bei den Asylanträgen insgesamt hat sich bei den Fluchtwaisen im ersten Jahresquartal das hohe Antragsniveau seit August 2021 fortgesetzt. Im ersten Quartal des heurigen Jahres ersuchten 1557 Minderjährige um Schutz.

In fast gleich viel Fällen zogen die Asylbehörden in diesem Zeitraum rechtliche Konsequenzen, weil ein Kind oder Jugendlicher nicht mehr auffindbar war; ein Teil davon hatte wohl bereits 2021 einen Asylantrag gestellt. Laut der vierteljährlich erscheinenden Detailstatistik des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA), die seit Jahresbeginn auch die Zahl der Asylverfahrensentziehungen bei Fluchtwaisen ausweist, wurden im ersten Quartal 2022 Verfahren in 1462 Fällen gestoppt. "Das sind nach wie vor hohe Zahlen", sagt dazu Stephanie Krisper, Asyl- und Migrationssprecherin der Neos, die immer wieder parlamentarische Anfragen zur Lage der UMF in Österreich stellt.

Jugendliche werden alleingelassen

Mit Abstand am häufigsten tauchten junge Afghanen ab. 1142 Kinder und Jugendliche, die aus dem von den Taliban regierten Land geflohen sind, wurden vom BFA als Asylantragsteller gestrichen. An zweiter Stelle stehen junge Syrer, bei denen das in 178 Fällen geschah.

Wichtiger Grund dafür sei, dass es in Österreich für Fluchtwaisen nach wie vor keine Obsorge ab dem ersten Tag gebe, sagt Wolfsegger. Zuständig dafür wären die jeweiligen Bezirkshauptmannschaften, doch Gespräche mit den Ländern gingen "nur in Minischritten voran". Ohne Vormund und dessen sachliche Beratung seien die Kinder und Jugendlichen jedoch "allein auf Informationen in ihrer Peer-Group angewiesen". Dort heiße es pauschal, junge Afghanen hätten in Österreich keine Chancen. Auch stehe mangels Vormündern in Österreich niemand in der Verantwortung, nach konkreten einzelnen Jugendlichen zu suchen.

Im Innenministerium sieht man das anders. Viele der verschwundenen Jugendlichen würden in den Asylsystemen anderer EU-Staaten wieder auftauchen, heißt es dort. Das zeige sich den die Wiederaufnahmeersuchen im Rahmen der EU-Dublin-Verordnung, laut der der Erstantragsstaat für ein Asylverfahren zuständig ist. Im ersten Quartal 2022 wurden laut BFA-Statistik 931 Dublin-Konsultationsersuchen zu allein reisenden Minderjährigen an Österreich gestellt, in 320 Fällen gab es Informationsanfragen.

Polizeitaktik und Amtsgeheimnis

Am 16. Dezember 2021 hat der Nationalrat Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) aufgefordert, präzise Daten zu den verschwundenen Kindern zu erheben und zu veröffentlichen. Auch solle "zeitnah" ein möglicher krimineller Hintergrund des Verschwindens untersucht werden.

Viel ist seither nicht passiert, vom Einfügen der Zahlen zu den Asylverfahrensentziehungen abgesehen fehlen konkrete Ergebnisse. Das ist einer aktuellen Anfragebeantwortung Karners an die SPÖ-Nationalratsabgeordnete Katharina Kucharowits zu entnehmen.

Der verlangte Prüfprozess sei "im Februar 2022 gestartet", antwortete der Innenminister lapidar. Zum Stand der kriminalistischen Untersuchungen gibt es keine Auskunft – "aus polizeitaktischen Gründen", wegen Datenschutzes und Amtsverschwiegenheit sowie "um allfällige Ermittlungsergebnisse nicht zu gefährden". Hier zeige sich "das Desinteresse des Ministers, an dieser Thematik überhaupt etwas zu ändern", kommentiert das Kucharowits. Das Innenministerium verweigere Antworten "mit unbegründeten Sicherheits- und Rechtsbedenken". (Irene Brickner, 5.6.2022)