Werden sich die Theaterreihen wieder füllen? Diese Frage kann derzeit niemand beantworten.

APA / Herbert Neubauer

"Fünfzig Prozent sind das neue Ausverkauft." Manchmal hilft Sarkasmus, vor allem, wenn man dieser Tage eine Bühne leitet. Zu hören war der Spruch zunächst hinter vorgehaltener Hand, von Theaterleuten beim Besuch der Premieren anderer Theaterleute, denen es auch nicht viel besser geht.

Die sozialen Interaktionen, die zu einer Theaterrezeption gehören, sind nach der Aufhebung der Covid-19-Maßnahmen weitgehend wiederhergestellt. Das klösterliche Schweigen unter der strengen Observanz der Hygienekonzepte ist aber noch gut in Erinnerung. Die frühere Unbefangenheit stellt sich nicht wieder ein. Es braucht Zeit, das Vertrauen wieder ganz zu reparieren, auf dem alles öffentliche Leben und damit auch das Theater beruhen.

Der Absturz der Auslastungszahlen in österreichischen Theatern ist kein Marketingproblem. Ob sie nun von 83 auf 68 Prozent sinken, von 84 auf 59 Prozent oder wie in einem Wiener Großbetrieb zeitweise bis auf 47 Prozent, macht letztlich wenig Unterschied.

Verleugnung der Krise

Wo Krise ist, bleibt ihre zuletzt vergebliche Leugnung nicht aus. Als der ab heute bei den Festwochen gastierende Regisseur Christopher Rüping vor einem Monat den halb leeren Sitzplan seiner bevorstehenden Premiere am Hamburger Thalia-Theater postete, hielt man sich in Wien noch für gewappnet. Nun klagen auch hierzulande die Theater.

Für einige Kommentatoren liegt das einfach nur an einem vorgeblich verkopften Programm. Wenn man wieder "richtige" Stücke spiele, werde alles wieder gut. Oper und Konzerten gehe es sowieso prächtig. Doch es wird alle treffen. Der Publikumsschwund ist Symptom eines dramatischen Wandels gesellschaftlicher Verkehrsformen über nur wenige Monate. Alltagsroutinen wurden regelrecht verlernt. Der Citoyen hat sich ins Homeoffice zurückgezogen. Ihn da wieder herauszulocken ist die derzeit wichtigste politische Aufgabe für Theater, Festivals, Opernhäuser. Kulturelle Teilhabe ist am häuslichen Bildschirm allein nicht zu haben. Sie erfordert gemeinsame Aktivität im Präsenzmodus. Dabei muss es auch darum gehen, über diejenigen nachzudenken, die man bislang noch nicht erreicht hat.

Eine politische Kennzahl

Die vielstrapazierte Auslastung ist bei genauer Betrachtung weniger eine ökonomische Kennzahl als eine politische. Sie zeigt lediglich an, ob öffentlich finanzierte Kunst im angestrebten Umfang öffentlich realisiert wurde. Dabei gelten für unterschiedliche Inhalte unterschiedliche Kriterien. Ginge es nur um die Bewirtschaftung von Sitzplätzen, würde man mit Schwänken und Musicals wohl am besten fahren. Öffentliche Finanzierung aber ist mit dem Auftrag verbunden, sich an relevanter Kunst zumindest zu versuchen.

Diese Relevanz entscheidet sich jedoch nicht allein über ästhetische Binnendifferenzen, die Strategien der Abgrenzung einer Spätavantgarde zum vorgeblichen Mainstream. Kunst sollte vielmehr einem Publikum vermitteln können, dass sie sich mit Dingen befasst, die mit seinem Leben zu tun haben. Theater erhebt den Anspruch, sowohl Denkräume zu öffnen als auch die Betrachtenden im Lessing’schen Sinn zu "affizieren". Warum bietet es aber so wenig Gelegenheit, sich über seine Gedanken und Affekte auszutauschen?

Das Publikum als empirische Größe besser zu kennen wäre gleichfalls von Vorteil. Auch das, das man nicht hat. 2019 hat der Soziologe Martin Tröndle eine Arbeit zur "Nicht-Besucherforschung" publiziert. Dieses Papier müsste das Zeug zum Bestseller haben.

Publikum elf Jahre gealtert

Akademische Forschung bietet solide Daten. Eingang in kulturpolitische Entscheidung finden sie eher selten, was Tröndle und der inzwischen auch in Krems lehrende Markus Rhomberg in einer weiteren Studie beklagen. Sie zeigen darin, dass das Durchschnittsalter der Konzertbesucher in den zwei Jahrzehnten um die Jahrtausendwende um elf Jahre gestiegen ist. Publikum wird zur schützenswerten Spezies. Statistiker registrieren einen stetigen Rückgang der Theaterbesuche seit den 1980er-Jahren. Theater, die ihre Existenz damit rechtfertigen, dass es sie schon zur Gründerzeit gab, bieten nur mehr die Hälfte ihrer ursprünglichen Kapazität an.

Die Ära eines Bildungsbürgertums, das sich seit dem späten 18. Jahrhundert über die Institutionen einer "Hochkultur" definiert, scheint nach langem stillem Siechtum beschleunigt zu Ende zu gehen. Das muss kein Verlust sein. Die heutige Gesellschaft ist ja nicht dümmer, sie ist nur anders gebildet. Solange jede Bildungsreform danach fragt, "was die Wirtschaft braucht", geraten musische Bildung und kulturelles Orientierungswissen ins Hintertreffen. Das zwingt den Kulturbetrieb, Strategien zu entwickeln, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Das Theater der Zukunft wird ein Theater der Bildung sein und nicht mehr eines des Bildungsdünkels. (Uwe Mattheiß, 1.6.2022)