Ukrainische Soldaten in Lyssytschansk bereiten sich auf den nächsten Abwehrkampf gegen die russischen Truppen vor. Die Invasoren haben es vor allem auf diese Stadt und Sjewjerodonezk abgesehen.

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Bangte die Ukraine monatelang um die südliche Hafenstadt Mariupol, so steht nun Sjewjerodonezk im Fokus Kiews. Die Stadt mit ursprünglich rund 100.000 Einwohnern ist die größte Stadt in der Region Luhansk, die Russland noch nicht kontrolliert, und hat dementsprechend hohen strategischen und symbolischen Wert. Auch wenn die ukrainischen Streitkräfte alles tun, damit Sjewjerodonezk das gleiche Schicksal wie Mariupol erspart bleibt, rücken die feindlichen Truppen Schritt für Schritt voran.

Laut Stadtverwaltung sei bereits die Hälfte von Sjewjerodonezk unter Kontrolle der russischen Truppen. Man komme aber nicht so schnell voran wie erhofft, zitierte die russische Nachrichtenagentur Tass am Dienstag den Anführer der prorussischen Separatistenregion Luhansk, Leonid Pasetschnik. Der Vormarsch werde auch erschwert, weil es mehrere große Chemieanlagen in der Region gebe. Man wolle vor allem die Infrastruktur der Stadt erhalten.

Fluchtweg für Soldaten

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hingegen erklärte, russischer Beschuss hätte rund 90 Prozent der Gebäude in der Stadt beschädigt, mehr als zwei Drittel der Wohnhäuser seien zerstört. An eine Aufgabe der Stadt denkt die ukrainische Seite nicht. Man kämpfe weiterhin gegen die langsam eindringenden russischen Soldaten, erklärte Bürgermeister Olexandr Strjuk. Die ukrainischen Truppen seien in der Stadt nicht in Gefahr, eingekesselt zu werden, da sie sich auf die andere Seite des Flusses Siwerskyj Donez nach Lyssytschansk zurückziehen könnten.

Für die noch in Sjewjerodonezk verbliebene Zivilbevölkerung wird eine Versorgung angesichts der andauernden Kämpfe immer schwieriger. "Wir befürchten, dass bis zu 12.000 Zivilisten in der Stadt im Kreuzfeuer gefangen sind, ohne ausreichenden Zugang zu Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten oder Strom", sagte Jan Egeland, Generalsekretär der Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council (NRC). Die sich zuspitzenden Gefechte machten nun die Lieferung von Hilfsgütern unmöglich.

Der nahezu ununterbrochene Beschuss zwinge die Zivilisten dazu, in Luftschutzräumen und Kellern Zuflucht zu suchen. Es gebe nur noch wenige Fluchtmöglichkeiten. Egeland forderte alle Beteiligten auf, Organisationen unverzüglich Zugang zu gewähren.

Langsame Fortschritte Russlands

Würde Russland Sjewjerodonezk und die Nachbarstadt Lyssytschansk einnehmen, würde es faktisch die Region Luhansk im Donbass kontrollieren. Laut dem britischen Verteidigungsministerium mache Moskau mit seiner verstärkten Offensive in Luhansk langsame, aber größere Fortschritte als in früheren Phasen des Krieges. Der Fokus auf diese Region bedeute aber, dass Russland in anderen besetzten Gebieten seine Kontrolle riskiere. Um die Regionen Luhansk und Donezk vollständig zu besetzen, wie es Moskau anstrebe, müssten seine Truppen neben Sjewjerodonezk auch die wichtige Stadt Kramatorsk und die Hauptverkehrsader zwischen Dnipro und Donezk unter ihre Kontrolle bringen, hieß es.

Im Mariupoler Hafen haben die prorussischen Separatisten unterdessen mehrere Handelsschiffe beschlagnahmt. Die Schiffe werden umbenannt und Teil einer neu entstehenden Handelsflotte der "Donezker Volksrepublik", erklärte Separatistenführer Denis Puschilin. Das erste Schiff mit einer Ladung von 2500 Tonnen Metall sei nun in die russische Millionenstadt Rostow am Don geschickt worden.

152 Leichen in Stahlwerk

Im lange umkämpften Asow-Stahlwerk in Mariupol hat das russische Militär eigenen Angaben zufolge mehr als 150 Leichen ukrainischer Kämpfer gefunden. "In einem Container mit nicht mehr funktionierender Kühlung wurden 152 Leichen von gefallenen Kämpfern und Soldaten der ukrainischen Streitkräfte gelagert", sagte ein Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums. Moskau zufolge habe Kiew bislang keine Anfrage gestellt, die Toten zu überführen.

Am Dienstag meldete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Freilassung eines ihrer vier festgehaltenen ukrainischen Mitarbeiter. Die unabhängigen Beobachterinnen und Beobachter der OSZE-Sonderbeobachtermission (SMM) waren im April durch prorussische Kräfte wegen angeblicher Spionage festgenommen worden. Generalsekretärin Helga Schmid fordert die Freilassung auch der anderen Mitarbeiter.

Nato-Minister entführen?

Für Aufsehen sorgte schließlich der Vorschlag des Duma-Abgeordneten Oleg Morosow in einer russischen Talkshow, einen Nato-Verteidigungsminister zu entführen. Vielleicht werde einer von ihnen wieder mit einem Zug nach Kiew fahren. "Aber er würde nicht ankommen. Er würde irgendwo in Moskau aufwachen", fügte Morosow hinzu. (Kim Son Hoang, 30.5.2022)