"Niemand sagt sich, mein Plan ist, mich scheiden zu lassen, sobald das Kind drei Jahre alt ist!": Reinsve wurde 2021 in Cannes beste Darstellerin.

Jae C. Hong / AP

Auf dem Filmfestival in Cannes 2021 wirbelte die Norwegerin Renate Reinsve auf die Weltbühne des Kinos: Man feierte sie für ihre Rolle in Joachim Triers The Worst Person in the World, am Ende wurde sie als beste Darstellerin ausgezeichnet. Und dies ganz zu Recht: Denn als die Endzwanzigerin Julie, die weder im Beruf noch in romantischen Belangen ihre Rolle im Leben gefunden hat, betört sie mit einer ausgelassenen Unverblümtheit, der man sich nicht entziehen kann.

Trier gliedert seinen Film, der dritte Teil einer losen Trilogie über urbanes Leben, in zwölf Kapitel, die ständig mit Einfällen überraschen: Er erzählt von Julies Beziehung zum 44-jährigen Comiczeichner Aksel (Anders Danielsen Lie) und davon, wie sie sich den Möglichkeiten des Lebens (und der Männerwelt) nicht verschließen kann. Alles neu, wenig anders? Eine zeitgenössischere Figur als diese Frau hat man im Kino schon länger nicht erlebt. Ab Donnerstag im Kino.

STANDARD: Der Film ist sehr glaubwürdig darin, wie er von einem Paar und den Unterschieden zwischen Generationen erzählt. Sehen Sie in Julie den charakteristischen Millennial?

Reinsve: Sie gehört zu einer Generation, die über das Privileg verfügt, eine große Zahl an Wahlmöglichkeiten zu haben. Man kann sich die Ausbildung aussuchen oder den Job wechseln, das Leben lenken. Zugleich wissen wir nichts, vieles steht unter Fake-News-Verdacht. Und dann gibt es soziale Medien, die eigentlich überhaupt nicht sozial sind, sondern ein schrecklicher Ort des Selbstmarketings. Alles sehr verwirrend. Aber nicht nur meine Generation ist davon betroffen, sondern auch meine Großmutter. Sie hat jetzt einen Biker-Freund, ist auch auf Instagram und hat mir gesagt, sie fühle sich stark mit Julie verbunden.

STANDARD: Julie hat weitaus größeres Identifikationspotenzial?

Reinsve: Es gab schon viele männliche Journalisten, die meinten, sie seien eigentlich Julie. Jeder und jede findet einen persönlichen Zugang zu ihr. Als ich die Rolle das erste Mal las, fühlte ich mich mit ihr verbunden, aber es war auch wichtig, mich zu distanzieren. Julie trifft Entscheidungen, die ein wenig von ihr abgekoppelt sind. Sie fragt sich, wie man Konsequenzen besser im Voraus sehen kann. Das Leben verläuft immer anders.

STANDARD: Zu viel Freiheit vergrößert die Unsicherheit, oder?

Reinsve: Wir lernen halt nichts dazu. Alle haben diese Disney-Vorstellungen, wie man richtige Liebe findet. Oder eben seinen Traumberuf – und dann landet man ganz woanders und denkt, ich werde sicher bald aufhören und das machen, was ich wirklich will. Dann wird man unsicher, bekommt ein Kind und lässt sich scheiden. Niemand sagt sich, mein Plan ist, mich scheiden zu lassen, sobald das Kind drei Jahre alt ist!

Julie (Renate Reinsve) drückt in "The Worst Person in the World" auf die Pausetaste: "Jeder, der in einer Beziehung steckt, hat die Fantasie, alles anzuhalten und auszuscheren."
Foto: Filmladen

STANDARD: Der Film ist von zwei Männern, Eskil Vogt und Joachim Trier, geschrieben. Wie stark haben Sie sich in die Rolle eingebracht?

Reinsve: Die Männersicht hat mich anfangs nervös gemacht. Julie kam mir beim Lesen aber gleich sehr vielschichtig vor, weil man sie aus mehreren Perspektiven sieht. Im Buch war jedoch Aksel der Starke in der Beziehung. Er kann die Situationen analysieren, Julie hingegen wirkt oft irritiert. Durch meine Therapie weiß ich jedoch, dass man auch stark wird, wenn man sein Chaos akzeptieren kann. Deswegen war die Trennungsszene sehr wichtig. Julie will nicht definiert werden, vor allem nicht auf die Weise, wie es ein Mann wie Aksel macht. Das ist ein Problem vieler Frauen – das habe ich eingebracht.

STANDARD: Würden Sie auch gern einmal wie Julie die Pausetaste drücken und einen Tag lang ein anderes Leben austesten?

Reinsve: Joachim liebt es, mit solchen Möglichkeiten des Kinos zu spielen. Wir nennen es betrügen, eine Sünde, manche glauben, dass sie zur Hölle fahren – aber jeder, der in einer Beziehung feststeckt, hat irgendwann diese Fantasie, im Leben alles anzuhalten und auszuscheren. Und vor allem: ohne Konsequenzen. Diese Szene führt ins Unbewusste der Figur. Julie fühlt sich oft unbehaglich. Sie weiß nicht, woran es liegt, möchte es aber herausfinden. Es ist der Kampf einer Frau in einer Beziehung. Ihr Happy End kann nur im Alleinsein liegen.

Movie Coverage

STANDARD: Im Film geht es auch um unterschiedliche Positionen bezüglich des Kulturwandels im digitalen Zeitalter. Glauben Sie, dass das Generationen trennt?

Reinsve: Joachim hat einen melancholischeren Blick auf diesen Wandel als ich. Es gibt diesen Monolog von Aksel, in dem es um sein Begehren geht, die Zeit festzuhalten. Aksel romantisiert das auch. Julies Antwort darauf lautet, dass es Bücher gibt. Ich selbst bin mir nicht sicher, ob es eine Generationenfrage ist: Allerdings hätte die Szene wohl nicht funktioniert, wenn es ein jüngerer Schauspieler gewesen wäre. Aksel repräsentiert einen intellektuellen Typus, der diese Verbindung zu physischen Dingen, zu Schallplatten und Comics, hat.

STANDARD: In einer Interviewszene gerät Aksel in die Defensive – er muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass seine Comics sexistisch seien. Ist er Opfer oder nicht?

Reinsve: Für Julie ist es so, als ob er von seinem sozialen Podest stürzen würde. Was er über die Freiheit seiner Kunst sagt, ist aber auch richtig – die Szene funktioniert für mich wie eine Frage. Was ist richtig? Wer hat recht? Ich bin mir da gar nicht sicher.

STANDARD: Weil das stark von der Perspektive abhängt?

Reinsve: Nach MeToo haben sich so viele Dinge geändert. Man spricht anders über Machtverhältnisse. Norwegen ist jedoch ein Land der Konformität, es kommt gleich nach Saudi-Arabien und Südkorea. Diskussionen werden in den Medien einfach nicht mehr geführt, wenn etwas nicht mehr gesagt werden darf. Die Szene handelt davon, dass wir nicht miteinander sprechen können. Es ist essenziell, dass Filme von Tabus, auch von der Hässlichkeit erzählen. Wir brauchen die Kunst, um wieder über gefährliche Dinge sprechen zu können. (Dominik Kamalzadeh, 1.6.2022)