Königliches Pint-Glas, in mehrfacher Hinsicht.

Foto: AP / Paul Chiasson

Eine Krone, hurra! Pünktlich zu den viertägigen Feiern des 70-Jahr-Thronjubiläums, mit denen die Nation von Donnerstag an ihre Queen ehrt, wartet die Regierung des britischen Premiers Boris Johnson mit einer patriotischen Nachricht auf: Auf den Pint-Gläsern im Pub werde sich demnächst wieder eine Königskrone finden. "Cheers, Your Majesty", titeln begeisterte Boulevardblätter ganz im Sinn des derzeitigen Bewohners von Downing Street Nummer 10, wo bekanntlich auch in schwersten Lockdown-Zeiten alkoholisierter Frohsinn nicht fehlen durfte.

Die Zeitungen sind vom royalen oder doch eher ganz profanen Rausch so benebelt, dass sie nicht einmal fünf Monate zurückschauen können. Zu Jahresbeginn veröffentlichte der Regierungschef eine Brexit-Bilanz, genau ein Jahr nach dem endgültigen Austritt des Königreichs aus Binnenmarkt und Zollunion der EU. Schon damals wurde die Krone als Errungenschaft der neuen Freiheit außerhalb des ungeliebten Bündnisses gefeiert. Ebenso brüstete sich Johnson Anfang Jänner damit, er habe "das Verbot" aufgehoben, Waren in Pfund zu verkaufen – anstatt in Kilos.

"Metrische Märtyrer"

Natürlich steckten hinter dem angeblichen Verbot auch damals die verruchten Brüsseler EU-Bürokraten – wobei Verurteilungen von Obstverkäufern, die ihre Ware in Pfund an die Konsumenten bringen, auf dem Kontinent nicht bekannt geworden waren. Lediglich auf der Insel hatten übereifrige Lebensmittelkontrolleure altmodisch gesinnten Händlern eine Verwarnung ausgesprochen. Als diese vor Gericht zogen, schrieben die Zeitungen alsbald von "metrischen Märtyrern".

Pünktlich zum royalen Jubiläum wärmt Johnson die vergnügliche Nostalgie wieder auf. In der ausgerufenen "Ära von Großzügigkeit und Toleranz" gegenüber alten, sogenannten "imperialen" Längen- und Gewichtseinheiten sieht der Brexit-Marktschreier "altehrwürdige Freiheiten" wiederbelebt. Schon warnen Spaßvögel auf Twitter, die Regierung wolle den freiheitsliebenden Briten wohl die Freude am Kuddelmuddel nehmen.

Tatsächlich herrscht auf der Insel fröhliche Anarchie bei der Beschreibung. Distanzen auf der Autobahn werden in Meilen angegeben, Auto-Tachometer verkünden die Geschwindigkeit in Meilen und in Kilometern. In Supermärkten stehen Vier-Pint-Milchcontainer einträchtig neben Zwei-Liter-Dosen Olivenöl. In Arztpraxen wird die Größe nicht etwa in Fuß und Zoll gemessen, sondern in Zentimetern. Damit wird den vielen Patienten, die zu viele Kilos – nicht etwa Stone (gleich 6,35 Kilo) und Pfund (453 Gramm) – wiegen, die Berechnung des gefürchteten Body-Mass-Index erleichtert. Vom Schock erholen sich die Übergewichtigen im Pub bei einem Pint Bier oder aber einem Glas Wein, das in Zentilitern gemessen wird.

Ein Pint gegen den Kummer

Apropos Pint – die Menge von 568 Millilitern ist auf der Insel seit 1698 das Maß aller Dinge. Das damalige Gesetz liest sich heute wie eine Aufforderung zum Kampftrinken: Bier durfte nur noch mindestens in Pints ausgeschenkt werden. Freilich betrug der Alkoholanteil damals nicht viel mehr als zwei oder drei Prozent. Vorschriften aus jüngerer Zeit ermöglichten immerhin die Halbierung des Pint-Maßes.

Die politisch Interessierten in London beschuldigen Johnson ob seines Vorstoßes, imperialen Längen- und Gewichtseinheiten neues Leben einzuhauchen, übrigens eines zynischen Ablenkungsmanövers, im Westminster-Jargon "tote Katze" ("dead cat") genannt. Der Ausdruck geht auf Johnsons australischen Strategieberater Lynton Crosby zurück: Wer von der vorherrschenden Debatte ablenken will, muss der Nation eine neue Sensation, etwa "ein totes Haustier auf dem Küchentisch", servieren.

Ob’s hilft? Sky News zufolge fordern schon 27 Abgeordnete der Tories öffentlich den Rücktritt ihres parteibefreundeten Premiers. Noch einmal so viele, und es muss zu einem Misstrauensvotum kommen. (Sebastian Borger aus London, 1.6.2022)