Vor Gericht wurde die Beziehung von Johnny Depp und Amber Heard seziert.

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Anderer Menschen Not als Unterhaltung zu konsumieren, das hat eine lange Tradition. Viktorianische Familien packten Picknickkörbe, um öffentliche Hinrichtungen mitzuverfolgen. Heute hält man sich gern für zu zivilisiert für solche Sensationslust. Dabei findet sie bloß im Netz statt – auf Tiktok, Instagram, Twitter und in den Kommentarspalten von Videostreams. Selten war das so klar zu beobachten wie im Prozess Depp vs. Heard.

Die Welt sah in den letzten Wochen zwei Menschen, die offensichtlich Gift füreinander sind. Die einander demütigen, verhöhnen, verletzen. Es ging um Blut und Kot und Missbrauch. Es ging die Welt nichts an.

Und trotzdem wurde der Prozess zum Spektakel. Auf Tiktok und Instagram wurde jeder Tag vor Gericht seziert. Die heftigsten Sager, die schlimmsten Grimassen, die vermeintlich größten Knalleffekte: In zig Millionen Videos wurden sie kleinteilig aufbereitet und kommentiert. Irgendwann löste sich der Fakt, dass hier zwei reale Menschen in einem realen Gerichtssaal saßen, in der Sensationslust vollständig auf.

DER STANDARD

Ein Prozess vor Gericht, einer im Netz

Jugendliche spielten in viralen Tiktoks Zeugenaussagen nach. Heards weinendes Gesicht wurde im überzeichneten Comic-Stil animiert. Selbst die Anwälte bekamen Spott- oder Spitznamen verpasst, von ihren Auftritten wurden Best-of-Videos erstellt. Doch der Großteil der Häme und des Hasses ergoss sich über Heard. Noch bevor ein Urteil gefallen ist, hat das Internet sie schuldig gesprochen.

Das wirft Fragen auf. Ob unter diesen Bedingungen ein unbeeinflusster, fairer Prozess möglich ist. Ob das Urteil nicht letztlich irrelevant ist, weil in den Augen der Öffentlichkeit hier keine Verleumdungsklagen, sondern Wert und Würde der Beteiligten verhandelt werden. Und was das für künftige Prozesse bedeutet. Wir wissen, dass mit Bots sogar Wahlen gezielt beeinflusst werden können – warum sollte es bei Gerichtsverhandlungen anders sein?

Im Kern geht es hier nicht um Schuld. Jedem Menschen steht ein Maß an Würde zu. Jedem Menschen steht zu, auch als Mensch begriffen zu werden. Und dass Momente großer Verwundbarkeit nicht zum globalen Spektakel werden. Das gilt selbst dann, wenn Hollywood-Karrieren und Millionen Dollar auf dem Spiel stehen. Depp und Heard haben das Recht auf eine Gerichtsverhandlung, nicht weniger, aber auch nicht mehr. In dieser Hinsicht liegt der Anfangsfehler bei der zuständigen Richterin. Dieser Prozess hätte nie live gestreamt werden dürfen. (Ricarda Opis, 1.6.2022)