Dirigent Christian Thielemann überzeugte mit seiner Bruckner-Interpretation im Musikverein.

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Wien – Apokalypse versus Idyll, alttestamentarischer Furor versus paradiesische Lieblichkeit, massive Blechbläserblöcke, auf die ein zartes Querflötchen folgt: Die Symphonien Anton Bruckners wurden und werden gern im Geist der Gegensätzlichkeit gedeutet. Christian Thielemann, der sachkundige Anwalt für deutsche Romantik, schlug am Dienstagabend im Musikverein andere Interpretationswege ein und stellte zusammen mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden in der Aufführung der Neunten das Verbindende über das Trennende.

Die blockhafte Bauweise der unvollendeten Symphonie wurde abgeschliffen, abgerundet zugunsten eines organischen Flusses. Dynamische Höhepunkte erinnerten weniger an metallbewehrte Burgzinnen oder an schroffe Felsgipfel denn an gutmütige, grasbewachsene Bergkuppen. Im grimmigen Scherzo wurde das motorische Fortissimo-Stampfen auf d nicht scharfkantig akzentuiert, sondern fast breiig-fließend präsentiert. Auch der Schreckensakkord im 206. Takt des Adagios, die akzentuierte Viertelnote im dreifachen Forte, ließ Thielemann abgerundet und sogar leicht decrescendierend spielen. Der Deutsche mied die Extreme und war stets um zusammenführende Mäßigung bemüht; die Neunte interessierte Thielemann weniger als Kampfplatz absoluter Gegensätze denn als Geschichte vom inneren Ringen eines Menschen.

Gefühlsgenauigkeit

Besonders in den ersten beiden Sätzen genoss man das selbstverständliche Erzählen des Dirigenten und der Musizierenden: die Gefühlsgenauigkeit im Vortrag, die Wechsel von Aufblühen und Verzagen, von seligem Schwärmen und hartem Realitätsschock. Von minimalen Irritationen bei den ersten Geigen im Scherzo und einem leicht verstimmten Holzbläserakkord im Adagio abgesehen, musizierten die Dresdner auf allerhöchstem Niveau.

Apropos Adagio: Ausgerechnet Bruckners letzter vollendeter Symphoniesatz überzeugte nicht vollends. Das Geschehen stockte, der Satz zerfiel vor lauter Feierlichkeit. Immer wieder buchstabierte Thielemann, wo frei zu singen gewinnender gewesen wäre, und parzellierte lyrische Themenfelder mit kleingärtnerischer Akribie. Das As-Dur-Thema entbehrte beim Mezzoforte-Auftritt der Sinnlichkeit, beim zweiten Mal (forte) wurde es wiederum fast vulgär überzeichnet. Bei diesem Satz hätte man sich mehr Herz als Kopf, mehr Nähe als reflexive Distanz gewünscht. Egal: Jubel im dreifachen Forte für den 63-Jährigen und die Sächsische Staatskapelle beim zweiten Gastspielabend im Großen Musikvereinssaal.

Edle Kammermusik

Der erste fand am Montag statt. Hierzu eine Vorgeschichte: Den kolumbianischen Dirigenten Andres Orozco-Estrada und seinen deutschen Kollegen verbindet auf Distanz eine seltsame Erfahrung. Ihre Verträge als Chefdirigenten sind nicht verlängert worden. Im Gegensatz zu Orozco-Estrada, der sein Amt als Leiter der Wiener Symphoniker deshalb auf der Stelle zurücklegte, pflegt Thielemann seine Kooperation mit der Staatskapelle Dresden weiter, die 2024 enden soll. Thielemann gilt ja mitunter als schwierig und ist immer für überraschende Wendungen gut, zu denen auch der plötzliche Abgang zählt. Aber so intensiv, wie die Zusammenarbeit zwischen Orchester und Dirigent bereits am Montag im Musikverein wirkte, sollte das bis zum offiziellen Ende halten. Ja, so wie der erste Satz von Felix Mendelssohn Bartholdys Symphonie Nr. 3 a-Moll, op. 56, der "Schottischen", klang, kam kurz Verwunderung auf, dass man Thielemann nicht einen Job auf Lebenszeit angeboten hatte ...

Das Meisterwerk präsentierte man als sich delikat aufbäumende Elegie: Als bestünde die Symphonie aus musikalischem Porzellan, wurde sie behutsam in Bereiche der Faststille geführt, ohne dass Präsenz verloren gegangen wäre. Das war ganz große Kammermusik. Auch im zweiten Satz wurden die Motive von Gruppe zu Gruppe gereicht, als wären sie von der Schwerkraft enthoben. Elegant auch der Drive im Finale, bevor es Richtung Spätromantik ging.

Auch bei Alexander Zemlinskys "Lyrischer Symphonie in sieben Gesängen" nach Gedichten von Rabindranath Tagore op. 18 aber Transparenz in der Opulenz, die gehaltvoll ausgekostet wurde. Mitunter schienen die Stimmen zwar etwas an ihre Grenzen gedrängt. Aber sehr präsent dennoch der wortdeutliche Adrian Eröd. Sopranistin Julia Kleiter entfaltete wiederum in intimen Passagen ihre lyrische Kompetenz. Hernach Thielemanns Umarmungen quasi in fast alle Richtungen. (sten, toš, 1.6.2022)