Foto: ÖNB Wien: LIT 286/B386

Nach dem Kollaps der politischen Systeme in Deutschland und Österreich sendet Mela Hartwig ihr "Wunder von Ulm" an den Wiener Zsolnay-Verlag. Sie ist zu diesem Zeitpunkt allerdings schon seit einigen Jahren vom Buchmarkt abgeschnitten. Erscheinen wird die Novelle erst 1936 im Exilverlag Éditions du Phénix.

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Gerade die historische Rückschau auf Texte des Exils läuft Gefahr, deren Zeitkern aus den Augen zu verlieren. Zu sehr drängt sich auf, was wir schon wissen: das Danach, Verfolgung und Vernichtung und später, nach 1945, das notorische Verdrängen und Vergessen. Noch in den 1930er-Jahren aber suchten Autorinnen und Autoren wie Albert Drach, Mela Hartwig, Gertrud Kolmar oder Joseph Roth nach literarischen, theoretischen und politischen Auswegen. Im Zentrum solcher Versuche steht oftmals die Handlungsfrage, thematisch werden Flucht und Emigration immer drängendere Probleme. Soll man noch zuwarten, oder doch den Schritt ins Exil wagen? Aktuellere Fragen könnte es angesichts des Krieges in der Ukraine auch heute traurigerweise kaum geben.

"Schluss mit der neuen Sachlichkeit"

Das Jahr 1930 markiert den Beginn einer Entscheidungssituation, in der sich Diskurse des vergangenen Jahrzehnts dramatisieren, gegen sich selbst wenden und nicht selten in sich zusammenstürzen. Der sich gebärdende, ekstatische Körper des Expressionismus wird über Methoden der Rasterung (Helmut Lethen) wieder einzufangen versucht. Dominante künstlerische Dogmen werden als ungenügend zurückgewiesen. "Schluss mit der Neuen Sachlichkeit!" titelt ein Feuilleton Joseph Roths aus jener Zeit – und auf der theoretischen Ebene steht als Telos geschichtsphilosophischer Systeme schon bald nicht mehr die Erlösung (von der wir in den frühen 20er-Jahren noch bei Franz Rosenzweig lesen), sondern die Figur des Antichristen und die Apokalypse, wie sie sich unter anderem in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen von 1940 zeigt.

Aus optimistischem Hoffen wurde banges Warten, an die Stelle kulturphilosophischer Appelle an den Fortschritt rücken nun vage Forderungen an einen "Wundersinn" (Paul Häberlin) oder überhaupt Schließungsgesten und Drohungen. In diese Zeit hinein werden Texte geschrieben, deren kritisches Potenzial in der Rezeption übergangen wurde, und das oft nur deshalb, weil ihr spezifischer Hoffnungshorizont irreversibel verschüttet daliegt. Als Beispiel dafür kann uns das Schreiben Mela Hartwigs gelten.

Die 1893 geborene Schriftstellerin aus jüdischem Elternhaus ist heute kaum rezipiert: Phasen der Wiederentdeckung gehen nahtlos in das neuerliche Vergessen über; die wenigen, verdienstvollen wissenschaftlichen Arbeiten konzentrieren sich auf die Rolle des Körpers im Schreiben Hartwigs. Ihre Texte entziehen sich jedoch allzu eindeutigen Klassifizierungsversuchen: Orientiert an psychoanalytischen Erkenntnissen, sind sie trotzdem eigenständig in ihren Narrativen und Einsichten. Der expressionistische "Schrei der Kreatur" steht hier neben neusachlichen Erzählweisen, in die sich Prosastrecken mischen, die an das gekonnte Versteckspielen Heinrich von Kleists erinnern.

Streitschrift

Hartwigs "Wunder von Ulm", geschrieben 1934, markiert dabei einen bemerkenswerten, noch zu wenig beforschten Moment in der Literatur dieser Periode. Aus Hartwigs Korrespondenz mit dem Wiener Zsolnay-Verlag geht hervor, dass sie diese Novelle als "Streitschrift" dachte, die in billiger Auflage das "internationale Judentum" wachrütteln solle. Wie so häufig bei Kleist gibt es auch in diesem Text ein Geheimnis zu entdecken – mit dem mittelalterlichen Wunder von Ulm verhält es sich bei genauer Lektüre doch anders, als zuerst gedacht –, und auch bei Hartwig steht eine (politische) Ausnahmesituation im Zentrum ihrer Erzählung.

Mela Hartwigs Texte leisten Widerstand gegen das bloße Erzähltwerden – dasjenige als Frau und auch als Jüdin –, sie nützen aber auch den Diskurs über das vermeintlich essenziell "Jüdische", um neue Identitäten vorzuschlagen, während die alten Zuschreibungen schon nur noch als Blendwerk gegen die Hetzer und Verfolger eingesetzt werden. Gerade im "Wunder von Ulm" geht es um ein "Initium" und um Handlung im Sinne Hannah Arendts, nicht umsonst beginnt die Erzählung mit einer Geburt in den Zusammenbruch hinein – "zwischen einstürzenden Mauern". Die Hoffnung auf eine "andere Wirklichkeit", mit der sich Hartwig zeitlebens obsessiv beschäftigte, hat auffindbare Spuren in der Literaturgeschichte hinterlassen. Vielleicht sind es diese, die es als Splitter der Vergangenheit heute wieder aufzuheben gilt. (Thomas Wallerberger, 3.6.2022)

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