Der Ex-Spion Sergej Schirnow hatte Anfang der Neunzigerjahre an der Pariser Eliteverwaltungsschule ENA eine Klassenkollegin namens Karin Kneissl. Damals hatte er "den Eindruck, dass sie eine gute Kandidatin sei", um von den Diensten angeworben zu werden. Das und ihre Vorliebe für Walzer habe er in ihrer Akte hinterlegt. In seiner aktiven Zeit hat Schirnow auch mehrmals Wladimir Putin getroffen. Im KGB habe Putin keinen guten Eindruck hinterlassen.

STANDARD: Herr Schirnow, Sie sind einer der wenigen russischen Ex-Spione, die sich über ihre frühere Tätigkeit äußern. Warum tun Sie das?

Schirnow: Seitdem ich mein Land verlassen habe, spreche ich auch deshalb, weil ich in Opposition zum Putin-Regime stehe. Es führt heute einen ungerechten und überdies schlecht vorbereiteten Krieg, und der einzige Aggressor ist Putin.

Ex-Spion Schirnow: Als Spion sei Putin in Ungnade gefallen, und er sei auch nie wirklich ein Staatschef geworden, der sein Volk hinter sich geschart habe.
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STANDARD: Sie hatten ihn schon kennengelernt, als Sie ein 19-jähriger Student waren. Wie kam es dazu?

Schirnow: Ich arbeitete 1980 als Freiwilliger für die Telefonauskunft der Olympischen Spiele von Moskau. Mit einem Franzosen sprach ich stundenlang am Draht. Das kam dem KGB suspekt vor, und einer seiner Agenten überführte mich in die Lubjanka, den berüchtigten KGB-Sitz. Der kleine Mann in dem grauen Anzug hieß Wladimir Putin. Er hörte mir nicht einmal zu, sondern wollte mich partout als Systemfeind entlarven. Er genoss seine Macht, mit der er mir Angst zu machen versuchte. Und er war schon damals absolut borniert: Er hatte eine Idee, und die wollte er durchdrücken, obwohl er nicht das geringste Argument hatte.

STANDARD: Ein wenig wie heute im Ukraine-Krieg?

Schirnow: Genau. Putin sagt, er wolle die Ukraine "entnazifizieren". Bloß gibt es in Russland zehnmal mehr Neonazis. Mit Raumfahrtminister Dimitri Rogosin sitzt sogar einer in der Regierung. Putin hat keine Argumente. In meinem Verhör ließ er erst dann – und zwar blitzartig – von mir ab, als ich nebenbei angab, dass ich einen Enkel des Parteivorsitzenden Leonid Breschnew kenne.

STANDARD: 1984 kreuzten sich Ihre Wege erneut.

Schirnow: Ja, denn wir waren im gleichen Ausbildungsgang des Instituts Andropow, der KGB-Ausbildung. Ich sah Putin aber nur für kurze Zeit. Nach einem Straßenkampf in Leningrad, bei dem er sich einen Arm brach, fiel er im KGB in Ungnade. Ein Bericht hielt fest, Putin habe insofern ein psychologisches Problem, als er die Folgen seiner Entscheidungen und Handlungen nicht abzuschätzen vermöge. Für Gefahren habe er kein Gefühl; das berge Risiken für ihn selbst, aber auch für den KGB. Der Geheimdienst will, dass sich ein Agent sofort verzieht, wenn er einem Straßenkampf begegnet. Putin ließ sich aber darin verwickeln. Das tat er sicher auch, weil er Judoka ist und seinen Minderwertigkeitskomplex wegen seiner Körpergröße von 162 Zentimeter kompensieren will. Der KGB schob ihn jedenfalls nach Leningrad und dann in die DDR ab.

STANDARD: Ein Auslandseinsatz in der DDR, kam das nicht einer Beförderung gleich?

Schirnow: Nur scheinbar. In Wirklichkeit war die DDR-Provinz für Sowjetagenten ein Abstellgleis. Ganz anders Westberlin, das war damals ein internationales Spionagezentrum mit höchstem Agenten-Prestige. Nicht aber Dresden mit seinem fünfköpfigen Regionalbüro. Putin agierte dort nicht etwa als Geheimagent, sondern offen und unter seinem Namen als Stasi-Kontrolleur. Damit war seine Karriere als unerkannter Spion gescheitert.

STANDARD: Dafür brachte er es in der Politik bis zum Staatspräsidenten. Was hat er im Kreml von der KGB-Mentalität bewahrt?

Schirnow: Alles. Putin ist nie wirklich ein Staatschef geworden, der wie der Ukrainer Wolodymyr Selenskyj sein Land und sein Volk hinter sich geschart hat. In seinem Inneren bleibt er ein Chef der Tscheka, der politischen Polizei. Das Land führt er wie ein Politbüro, mit engsten Vertrauten, darunter Ex-Agenten und Leibwächtern. Diese Leute infiltrieren die Politik, so wie der KGB früher andere Länder infiltrierte. Demokratisch ist das nicht.

STANDARD: Manche Russlandkenner sagen, nur so könne man das riesige Land kontrollieren.

Schirnow: Das stimmt. Aber die Kontrolle durch die Geheimdienste muss im Dienst der Demokratie ausgeübt werden. Putin denkt nicht an das Volk, er denkt nur an seine Macht.

STANDARD: Ist Putin populär?

Schirnow: Leider eher ja. Er ist kein Staatsmann, sondern ein berechnender Opportunist; ein Manipulator, der weiß, was die Leute wollen, und danach handelt, um seine Popularität zu steigern. Sein Vorteil ist, dass die Russen einen starken Mann wollen, weil ihre Geschichte sie lehrt, dass es schwache Zaren, Parteivorsitzende oder Präsidenten nie weit bringen.

STANDARD: Was denken Sie von den "Suiziden" mehrerer Oligarchen?

Schirnow: Ich glaube nicht an Selbstmord. Es gibt dafür keine Beweise, aber Indizien. Und die sieben Fälle ähneln sich auch in ihrer warnenden "Botschaft" an die Nachwelt. Die Opfer sind nicht unbedingt Oligarchen, sondern stammen eher aus der Kategorie der Topmanager. Sergej Protosenja hatte zum Beispiel eine geeinte Familie, seit jeher die gleiche Frau, keine Mätressen. Obwohl er Frau und Kind mit einer Axt abgeschlachtet haben soll, fand die spanische Polizei nicht den geringsten Blutspritzer auf Protosenjas Hemd. Seltsam.

STANDARD: Haben Sie selber keine Angst, nachdem Sie beim KGB abgesprungen sind und heute aus der Schule plaudern?

Schirnow: Mein Abgang war geregelt, ich verließ den Geheimdienst erst, als Michail Gorbatschow seine Auflösung angeordnet hatte. Dass ich heute spreche, stört viele, das stimmt. Aber ich folge der ehernen Regel der Schattendienste: Wenn du überleben willst, bleibe im Licht. Ich schreibe Bücher, trete im Fernsehen auf. Mein unnatürlicher Tod in Paris würde Schlagzeilen machen wie die Vergiftung des Doppelagenten Sergej Skripal. Geheimdienste wägen stets ab: Was gewinnen sie, welchen Preis zahlen sie? In meinem Fall würden sie mehr verlieren. Weniger beruhigend ist, dass viele Agenten irrational handeln – wie Putin.

STANDARD: Wurden Sie nicht selber schon Opfer eines Vergiftungsversuchs?

Schirnow: Ja, 2001 in Moskau. Der Geheimdienst wollte, dass ich ihm wieder beitrete, aber ich war nicht bereit dazu und tat das auch kund. Das mochten sie gar nicht. Sie handelten nach allen Regeln der Kunst, sodass man nichts beweisen konnte. Ich verlor massiv an Gewicht, hatte nachts 40 Grad Fieber, lag schon fast im Sterben – doch die Ärzte fanden nichts. Eine Ärztin tippte auf Schwermetalle. Da sagte ich ihr am Telefon, das natürlich abgehört wurde, ich zöge aus meiner Wohnung aus und ginge für Blutproben nach Frankreich. Zwei Tage später erhielt meine Wohnung "Besuch", die Beschwerden hörten schlagartig auf.

STANDARD: Macht das vorsichtig?

Schirnow: Eher fatalistisch. Ich bin 61 und habe gut gelebt, meine persönliche Geschichte ist geschrieben. Ich bin nicht suizidär, aber mein Tod macht mir keine Angst mehr.

STANDARD: Es heißt, die russischen Geheimdienste seien heute mächtiger als zu Sowjetzeiten. Stimmt das?

Schirnow: Auf jeden Fall. Stellt man die verdoppelte Beschäftigtenzahl dieser Dienste und die halbierte Bevölkerungszahl Russlands gegenüber der Sowjetunion in Rechnung, ergibt sich, dass allein der heutige Inlandsgeheimdienst FSB viermal stärker ist als früher der KGB. Allein der Dienst zum Schutz des Präsidialamtes umfasst 10.000 Menschen. Das wirft auch die Frage auf: Warum hat Putin so viel Schutzpersonal nötig, wenn er so populär sein soll? Und warum lässt er keine freien Wahlen zu? Entweder ist er völlig paranoid – oder er ist gar nicht so populär.

Wladimir Putin in Diensten des russischen Geheimdienstes (ca. 1980).
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STANDARD: Ihre Meinung?

Schirnow: Es ist eine Mischung aus beidem. Nicht zu vergessen, die Umfrageinstitute in Moskau stehen unter Putins Einfluss.

STANDARD: Um auf den russischen Geheimdienst zurückzukommen: Haben sich seine Methoden unter Putin gewandelt?

Schirnow: Die Spione und Spitzel arbeiten wie früher mit ihren "Quellen". Verändert hat sich hingegen die Technologie. Die sozialen Netzwerke sind für die russischen Geheimdienste FSB (Inland), SVR (Ausland) und GRU (Militär) zum Schlachtfeld eines hybriden Krieges geworden. Sie betreiben Desinformation, Propaganda, Cyberattacken. Die Hacker der russischen Dienste sind heute dazu in der Lage, das Transportwesen oder die Spitäler eines ganzen Landes außer Gefecht zu setzen. Welch ein Kontrast zu Putin, der bis heute nicht einmal ein Handy hat! Ein Zeichen mehr, dass er mental in der KGB-Ära steckengeblieben ist.

STANDARD: Leidet die russische Armee in der Ukraine nicht auch darunter, dass es den russischen Geheimdiensten an Aufklärungssatelliten mangelt?

Schirnow: Von dem guten Dutzend russischer Beobachtungssatelliten sind nur noch zwei in Betrieb. Dagegen erhalten die Ukrainer Zielauskünfte von den Amerikanern. Das erklärt mit, was in der Ukraine abläuft.

STANDARD: Und die russischen Hyperschallraketen, funktionieren die?

Schirnow: Sie existieren, aber es mangelt den Russen an Wissenschaftern, um die Technologie zu meistern. Putin hat zwei, drei Prototypen dieser Superwaffen, mehr nicht. Sie verschlingen Unmengen an Geld.

STANDARD: Hat Sie das Steckenbleiben der russischen Übermacht in der Ukraine überrascht?

Schirnow: Überhaupt nicht. Putins Russland ist ein Potemkin'sches Dorf: Hinter den Fassaden hat es nichts. Die Armee verfügt zwar über mehr Mittel denn je, aber sie erweist sich als unfähig zu einer modernen Kriegsführung. Nicht einmal die Logistik hält Schritt. Putin missachtete die wichtigsten Kriegsregeln. So geht es, wenn sich ein Korporal für einen General wähnt – siehe Hitler.

STANDARD: Putin scheint nun stärker auf die Armeespitze zu hören.

Schirnow: Er ist dazu gezwungen, seitdem er viele Tausend Mann verloren hat. Aber selbst im Donbass ist der Erfolg des Unterfangens nicht garantiert. Aus strategischer Sicht müsste er eher den schlechter geschützten Süden mit Cherson und dann Odessa angreifen. Aber Putin will den Donbass – auch auf die Gefahr hin, einen Stellungskrieg wie im Ersten Weltkrieg in Verdun zu schaffen.

STANDARD: Die russische Klammerbewegung scheint im Donbass immerhin vorwärtszukommen.

Schirnow: Aber nur, weil den Ukrainern die Mittel fehlen. Wenn sie neue Waffen erhalten, wird die russische Armee nicht mehr weiterkommen. Putin bliebe dann nur noch das nukleare Arsenal.

STANDARD: Könnte er es einsetzen?

Schirnow: Das ist nicht unmöglich. Wie ich vorher sagte: Putin vermag die Folgen seines Tuns nicht abzuschätzen. Das macht es so gefährlich. Zumal Putin wie gesagt starrsinnig ist und sich von nichts abbringen lässt.

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STANDARD: Stimmt es, wie man hört, dass die Russen in Wien mehrere Dutzend Spione beschäftigen?

Schirnow: Zählen Sie das Personal in der russischen Botschaft in Wien und in den Konsulaten. Davon ist normalerweise ein Viertel bis ein Drittel für den Geheimdienst tätig.

STANDARD: Hatten Sie im KGB selber Kontakt zu Österreichern?

Schirnow: Als ich im Auftrag des KGB die Pariser Eliteverwaltungsschule ENA besuchte, hatte ich viel Kontakt zu Karin Kneissl, die damals meine Klassenkollegin war. Sie war für Putin, lange bevor sie Außenministerin wurde. Ich hatte den Eindruck – und schrieb das auch in ihre Geheimdienst-Karteikarte –, dass sie eine gute Kandidatin sei, um von unseren Diensten angeworben zu werden. Ich teilte damals auch nach Moskau mit, dass sie Walzer möge. Vielleicht tanzte Putin bei ihrem Hochzeitsfest deshalb mit ihr. (Stefan Brändle, 2.6.2022)