Es gehört erklärtermaßen zur politischen Strategie der Ukraine, trotz des russischen Angriffskriegs als Rechtsstaat voll operativ zu bleiben. Dieser Logik folgend, hat die Justiz des Landes längst damit begonnen, systematisch Hinweisen auf Kriegsverbrechen nachzugehen: Seit Beginn der Kämpfe seien es rund 15.000 gewesen, vor allem in der besonders hart umkämpften Donbass-Region, berichtet Iryna Wenediktowa. Sie ist seit 2020 die erste Frau an der Spitze der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine.

Iryna Wenediktowa ist Generalstaatsanwältin der Ukraine.
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Zwischen 200 und 300 Fälle würden derzeit jeden einzelnen Tag bekannt, führt die 43-jährige Juristin aus. Rund 600 Personen seien bisher als Tatverdächtige auch identifiziert worden, in rund 80 Fällen liefen bereits konkrete Ermittlungsverfahren bzw. Prozesse. Die rasche Bestrafung von Kriegsverbrechen solle als deutliches Signal dafür verstanden werden, dass man sich der eigenen Verantwortung nicht entziehen kann.

Die 1978 in Charkiw in eine Juristenfamilie geborene Wenediktowa gehört zum engeren Zirkel der Vertrauten um Präsident Wolodymyr Selenskyj. Schon vor dessen Wahl 2019 war sie dessen Rechtsberaterin und ein wichtiges Mitglied im Wahlkampfteam.

Sie selbst wurde als eine der Spitzenkandidatinnen der Selenskyj-Partei "Sluha narodu" ("Diener des Volkes") zur Abgeordneten in der Werchowna Rada gewählt und übernahm den Vorsitz im parlamentarischen Ausschuss für Rechtspolitik.

"Stählerne Entschlossenheit"

Nur wenige Wochen später wurde sie als erste Frau an die Spitze des Staatlichen Ermittlungsbüros berufen. Diese Behörde, die sich der Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität widmet, leitete sie nur wenige Wochen. Im März 2020 wurde sie zur Generalstaatsanwältin ernannt.

Die Nachrichtenagentur AP spricht ihr in einem Porträt "stählerne Entschlossenheit" und "unerbittliche Arbeitsmoral" zu. Humor blitze nur "gelegentlich" durch. Ihre Energie steckt die Juristin zurzeit zur Gänze in die Ahndung von Kriegsverbrechen: Wladimir Putin und die russischen Truppen sollen für ihre Verbrechen in der Ukraine bezahlen, wird sie zitiert. "Ich schütze das öffentliche Interesse der ukrainischen Bürger", sagte sie kürzlich in einem Interview. "Aber jetzt sehe ich, dass ich diese toten Kinder nicht schützen kann. Und das schmerzt mich." Mit ihrem Ehemann, einem Offizier der ukrainischen Polizei in der Abteilung für Cyberkriminalität, hat sie selbst zwei Kinder. (Gianluca Wallisch, 2.6.2022)