Die Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten: Was am Papier nach einem ausgewogenen Kompromiss zwischen Liberalisierung und Kontrolle aussieht, birgt in der Praxis Tücken. Offenbar finden kranke Menschen, die ihrem Leben mit nun erlaubter Beihilfe ein Ende bereiten wollen, keine bereitwilligen Ärzte für die nötige Begutachtung. Darauf deuten nicht nur Erfahrungsberichte, sondern auch die offiziellen Zahlen hin. Verdächtig wenige Bürger beschritten überhaupt die ersten Meter am Weg zum assistierten Suizid.
Die zentrale Hürde: Mit der Pflicht zur Begutachtung durch zwei Ärzte, von denen einer palliativmedizinisch ausgebildet sein muss, liegt eine Schlüsselrolle bei einem Berufsstand, in dem die Vorbehalte traditionell groß sind. "Weder den Tod hinauszögern noch verfrüht herbeiführen" lautet das Selbstverständnis der heimischen Palliativgesellschaft.
Diese Wertehaltung ist zu respektieren, darf aber nicht Maßstab für das Sterbehilfegesetz sein. Das vom Verfassungsgerichtshof eingeforderte Selbstbestimmungsrecht wird zum Hohn, wenn es von der Moralvorstellung anderer abhängt.
Sollten die Probleme nicht bloß Anlaufschwierigkeiten geschuldet sein, hat die Politik zu reagieren. Das Mindeste wäre eine öffentliche Liste verfügbarer Ärzte; finden sich zu wenige, muss der Staat selbst ein verlässliches Angebot schaffen. Sonst läge der Verdacht nahe, dass die türkis-grüne Regierung absichtliche Schikanen eingebaut hat. (Gerald John, 1.6.2022)