Erst am Montag hatte US-Präsident Joe Biden höchstselbst für Verwirrung gesorgt: Sein Land werde keine Raketensysteme an die Ukraine liefern, mit denen russisches Territorium angegriffen werden könne, sagte er. Konkret ging es schon damals um das Artilleriesystem Himars, dessen Spezialmunition bis zu 300 Kilometer weit – und damit potenziell über die Grenze hinweg – reicht.

Das High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS) im Einsatz.
Foto: AP / Tony Overman

Weil man in Washington Angst vor der Vergeltung Moskaus hat, umfasst das neue, am Mittwoch präsentierte Waffenpaket für die Ukraine nun Geschosse, die lediglich 80 Kilometer weit fliegen. Damit, so formulierte es Biden in einem Gastbeitrag in der New York Times, wollen die USA das angegriffene Land in die Lage versetzen, "wichtige Ziele auf dem Schlachtfeld in der Ukraine" präziser zu treffen.

Neben den umstrittenen, aber von Kiew dringend angeforderten Mehrfachraketenwerfern stattet Washington die Ukraine auch mit modernen Radarsystemen, Javelin-Panzerabwehrwaffen, Hubschraubern und Fahrzeugen aus. Insgesamt ist das neue US-Waffenpaket 700 Millionen Dollar (652 Millionen Euro) schwer.

Der Kreml reagierte erwartungsgemäß wenig erfreut. "Wir glauben, dass die USA absichtlich Öl ins Feuer gießen", erklärte Sprecher Dmitri Peskow. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow warnte wenig später vor einer direkten Konfrontation zwischen den USA und seinem Land: "Jede Waffenlieferung, die fortgesetzt wird, die zunimmt, verstärkt das Risiko einer solchen Entwicklung", sagte er am Mittwoch.

Ein hochrangiger US-Regierungsvertreter sagte am Dienstagabend, die Ukraine habe Washington versichert, "dass sie diese Systeme nicht gegen Ziele auf russischem Gebiet einsetzen werde".

Atomtruppen übten Einsatz

Wenige Stunden nach der Meldung aus Washington ließ das russische Verteidigungsministerium seine Muskeln spielen. Nordöstlich von Moskau trainierten Russlands Atomstreitkräfte am Mittwoch für den Ernstfall. Mehr als 1000 Soldaten sollen an dem Manöver beteiligt gewesen sein, bei dem auch die Abschussfahrzeuge der Interkontinentalrakete Jars einem Test unterzogen worden sein sollen.

Auf dem Schlachtfeld selbst dürfte die russische Armee nach schweren Kämpfen mittlerweile mehr als die Hälfte der ostukrainischen Stadt Sjewjerodonezk besetzt haben. Wie das für gewöhnlich gut informierte britische Verteidigungsministerium am Mittwoch berichtete, seien die Russen in den vergangenen Tagen weiter ins Zentrum der Industriestadt vorgerückt.

Politik der "Entvölkerung"

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock sagte, Moskau habe im Donbass seine neue Strategie erfolgreich angewandt: Erst werde Artillerie eingesetzt, dann bombardiere die Luftwaffe, und dann rücke die Infanterie vor.

Das Ergebnis lasse sich in Sjewjerodonezk beobachten: Russland betreibe dort ganz gezielt eine Politik der "Entvölkerung" und der "Auslöschung der Zivilisation" – und das alles aus sicherer Entfernung. Deutschland müsse der Ukraine dringend mehr Waffen liefern, forderte Baerbock. (Florian Niederndorfer, 1.6.2022)