In seinem Gastkommentar plädiert der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell für höhere Verteidigungsausgaben und eine europaweite gemeinsame Beschaffung.

Im Gegensatz zu den USA haben Europas Regierungen beim Verteidigungsbudget über Jahre stark gespart: ein US-Kampfflugzeug vom Typ F-35 über der Eifel in Deutschland.
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Russlands Krieg in der Ukraine hat die Europäische Union gezwungen, langjährige strategische Herausforderungen anzugehen. Die unmittelbarste Aufgabe besteht darin, die Abhängigkeit Europas von russischen Energieimporten zu beenden. Dieser Prozess ist bereits in vollem Gange, und zwar mit einem schrittweisen Ölembargo, das bis Ende des Jahres 90 Prozent erreichen wird.

Darüber hinaus muss Europa endlich eine wirkliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die dazu erforderlichen Fähigkeiten entwickeln. Auch wenn dieses Ziel an sich nicht neu ist, gibt es dazu nun einen neuen und dringenden Impetus. Russlands Krieg macht wieder einmal deutlich, dass wir eine weitere Bündelung von Verteidigungsinvestitionen brauchen. Das war auch die eine wichtige Schlussfolgerung des Europäischen Rates zum Thema Verteidigung in dieser Woche.

Mangelnder politischer Wille

Keine zwei politischen Probleme sind identisch. Manchmal scheint eine Herausforderung so neu und beispiellos zu sein, dass sie erst dann in Angriff genommen werden kann, wenn die veränderte Landschaft klar wird. Und manchmal sind Lösungen zwar bekannt, aber es fehlt an den entsprechenden Ressourcen. Die Debatte über europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik fällt in eine dritte Kategorie: Die Diagnose und die Rezepte sind klar, aber es mangelt an politischem Willen zur Umsetzung.

"Wir müssen mehr ausgeben, und wir müssen dies gemeinsam tun."

Wir wissen seit Jahren – ja sogar Jahrzehnten –, dass europäische Regierungen zu wenig für die Verteidigung ausgeben und dies zudem in zu fragmentierter Weise tun. Das Ergebnis ist, dass wir nicht über die militärischen Fähigkeiten verfügen, unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten und ein fähiger Nato-Partner zu sein. Wir müssen mehr ausgeben, und wir müssen dies gemeinsam tun.

Viele Länder haben jedoch nach der Finanzkrise 2008 ihre Verteidigungsausgaben gekürzt und den Haushaltsanteil, der für gemeinsame Sicherheitsinvestitionen vorgesehen ist, verringert. Zudem haben die Regierungen zu oft nur Lippenbekenntnisse zu gemeinsamen Ausgaben abgegeben, während sie weiterhin nationaler Beschaffung den Vorrang gaben (oft aus politischen Gründen, zum Beispiel zur Förderung der heimischen Industrie und Beschäftigung).

Unzureichende Mittelverwendung

Das Ergebnis war frappant. Zwischen 2009 und 2018 beliefen sich die Kürzungen der Mitgliedstaaten im Verteidigungsbereich auf insgesamt rund 160 Milliarden Euro. Schlimmer noch: Viele andere Länder auf der Welt sind uns voraus. In den letzten 20 Jahren sind die Verteidigungsausgaben der EU insgesamt nur um 20 Prozent gestiegen, verglichen mit den 66 Prozent der Vereinigten Staaten, fast 300 Prozent Russlands und 600 Prozent Chinas. Alarmierender ist auch, dass Europa im Jahr 2021 einen neuen Tiefpunkt erreicht hat, als nur acht Prozent der Rüstungsausgaben an Material in gemeinsame Investitionen flossen – weit entfernt von den 35 Prozent, die sich die EU-Mitgliedstaaten selbst als Ziel gesetzt haben.

Diese unzureichende Mittelverwendung und mangelnde Zusammenarbeit kosten die EU-Mitgliedsstaaten (und damit die Steuerzahler) aufgrund überflüssiger Ausgaben und Ineffizienz jedes Jahr Dutzende von Milliarden Euro. Aber das muss nicht so sein. Es liegt in unserer Macht, diesen Kurs zu ändern. Und wir kennen den Weg. Im Rahmen des sogenannten Strategischen Kompasses haben die EU-Institutionen und alle 27 Mitgliedstaaten einen entsprechenden Fahrplan ausgearbeitet. Wir verfügen über ausreichende Instrumente und Rahmenbedingungen – angefangen bei der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit und dem Europäischen Verteidigungsfonds –, die den Mitgliedstaaten helfen, Forschung, Entwicklung und Investitionen besser zu koordinieren.

"Wir müssen finanzielle Anreize für gemeinsame Beschaffung schaffen."

Aber andere Teile müssen noch zusammengefügt werden. Wir müssen finanzielle Anreize für gemeinsame Beschaffung schaffen und zu einer strategischeren Programmplanung übergehen. Wir müssen die industrielle und technologische Verteidigungsbasis der EU stärken, indem wir Forschung und Entwicklung unterstützen und das Potenzial neuer Technologien nutzbar machen. Wie ich den europäischen Staats- und Regierungschefs diese Woche sagte, die dies befürworteten, können sowohl die Europäische Kommission als auch die Europäische Verteidigungsagentur bei der notwendigen Koordinierung helfen.

Europas Verwundbarkeit

Wir Europäer neigen dazu, nur dann harte Entscheidungen zu treffen, wenn wir alles andere versucht haben und uns in einer Krise befinden. Diese beiden Bedingungen sind eindeutig erfüllt. Wir sehen Russland dabei zu, wie es einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, der Europas eigene Verwundbarkeit unterstreicht und langjährige Defizite und neue Bedürfnisse – etwa zur Auffüllung unserer erschöpften militärischer Vorräte – offenbart. Darüber hinaus kommt diese Krise zu vielen anderen Bedrohungen hinzu, sowohl in unserer eigenen Nachbarschaft als auch außerhalb. Die europäischen Interessen werden in allen strategischen Bereichen, einschließlich im Cyberspace, in der Seefahrt und im Weltraum, infrage gestellt.

Wir müssen die Mittel entwickeln, um uns in einer gefährlichen Welt zu schützen. Das erfordert nicht nur mehr Verteidigungsausgaben, sondern auch bessere Verteidigungsausgaben. Um unsere kollektive Sicherheit zu gewährleisten, müssen wir gemeinsam mehr investieren. (Josep Borrell, Copyright: Project Syndicate, 2.6.2022)